Feature Story | 17-Apr-2025

Forschen und Dichten: Die unerwartete Entdeckung eines Wissenschaftlers auf See

Goethe University Frankfurt

Rund 300 Seemeilen, drei ganze Tagesreisen vor der südafrikanischen Küste schaukelt das Bohrschiff JOIDES Resolution (JR) auf den Wellen über dem Agulhas Plateau. Endloses Blau und eine Schar hungriger Albatrosse begleiten die 30 internationalen Wissenschaftler*innen, die gemeinsam mit einer rund 100-köpfigen Crew im Februar 2022 in See stechen. Unter ihnen ist auch Jens Herrle, Professor für Mikropaläontologie und Paläozeanographie am Institut für Geowissenschaften, der bereits zum zweiten Mal an Bord der JR gegangen ist. Erklärtes Ziel ist es, herauszufinden, wie sich Tektonik und Klima im Übergang von der extremen Warmphase der Kreidezeit zu Eishausbedingungen der jüngeren Erdgeschichte auf der Südhalbkugel entwickelt haben. Dafür werden über einen Zeitraum von zwei Monaten insgesamt vier Bohrungen vorgenommen. Das Besondere: Gebohrt wird bis zur ozeanischen Kruste, in einer Tiefe von rund 2500 bis 4600 Metern. So werden 90 Millionen Jahre alte Sedimente und magmatische Gesteine wie Basalte an die Oberfläche befördert.

Mikrofossilien als Schlüssel zur Erdgeschichte

Herrles Spezialgebiet ist die Biostratigraphie, also die zeitliche Einordnung von Gesteinsproben anhand von Mikrofossilien. Eine unerlässliche Aufgabe für das komplette Forschungsvorhaben. „Das Mikropaläontologie-Team überwacht, ob die wissenschaftlich kritischen Intervalle erbohrt wurden,“ erklärt er, „ohne eine präzise Altersdatierung sind alle folgenden Analysen zur Rekonstruktion des Paläoklimas und der Umwelt wertlos.“ Und so sitzt Herrle unermüdlich in wechselnden 12-Stunden Schichten am Mikroskop, bereitet Schmierproben der marinen Mikrofossilien vor und datiert die erbohrten Sedimente. Hier verstecken sich winzige Kalkalgen (Coccolithophoriden), deren fossile Überreste Hinweise auf das Alter der Sedimente geben. Da bestimmte Arten zu klar begrenzten Zeiträumen in der Erdgeschichte lebten, lässt sich durch ihr erstes und letztes Auftreten bestimmen, wann die Sedimente abgelagert wurden. In weiteren Schritten werden zum Beispiel die Veränderungen von Temperatur und CO2-Gehalt untersucht. So lässt sich bestimmen, wie variabel das Klima auf unterschiedlichen Zeitskalen in der Erdgeschichte war und wodurch es beeinflusst wurde.

Alltag auf hoher See

Der wummernde Motor des Schiffes und das Dröhnen der in die Jahre gekommenen Klimaanlage stören den Mikropaläontologen bei seiner Arbeit wenig. Genauso wie das Schwanken des Schiffs sei das alles nur eine Gewöhnungssache, berichtet Herrle. Eigentlich für ihre Seestürme bekannt, verschont die Meeresregion die Besatzung weitestgehend. „Wir hatten großes Glück,“ sagt Herrle, „wir mussten die Region nur zwei Mal verlassen, als die Wellen eine Höhe von weit über sechs bis zehn Metern erreichten.“ Normalerweise ist er in den eisigen Polarregionen der kanadischen Arktis unterwegs und freut sich nun über das „T-Shirt-Wetter“. In den wohlverdienten Pausen beobachtet die Crew fliegende Fische und stattliche Goldmakrelen. Sogar Haie und ein Mondfisch lassen sich sehen. „Nur schlafen, essen und forschen – ein Traum für jeden Wissenschaftler,“ schwärmt Herrle lachend und ist voller Lob für die Wäsche- und Küchenteams, die auf dieser Reise ganz besonders herzlich und aufmerksam gewesen seien.

Wenn Wissenschaft auf Kunst trifft

Da wird man eigentlich nicht gern unterbrochen. So ging es zunächst auch Herrle, als die mitreisende Wissenschaftskommunikatorin Maryalice Yakutchik auf ihn zukommt. Ihr Auftrag ist es, die Forschungsarbeit der Expedition für ein breites Publikum aufzubereiten. Ihre Idee: Die Forschenden sollen die von ihnen untersuchten Sedimente in Form von Haikus beschreiben. Diese traditionelle japanische Gedichtform besteht aus nur drei kompakten Zeilen und hat oft einen Bezug zur Natur. Zunächst tun sich die Wissenschaftler*innen schwer mit dieser Aufgabe, doch nach einiger Überzeugungsarbeit gelingt es Yakutchik, ihnen allen die gewünschten Gedichte zu entlocken. Jeder von ihnen befasst sich dabei mit einem unterschiedlichen Abschnitt des Bohrkerns. Heraus kommt eine beeindruckende Sammlung von 68 Haikus, die die kontinuierliche Abfolge der unterschiedlichen Sedimente und Basalte beschreibt. Zurück an Land wird diese von Marlo Garnsworthy illustriert, sodass ein realistischer und zugleich künstlerischer Zeitstrahl zur Forschung und dem Alltag an Bord entsteht.

Als Herrle dieses Endprodukt zum ersten Mal zu Gesicht bekommt, ist er zugegeben baff: „Ich war völlig überwältigt, gerade weil ich zu Beginn so skeptisch war.“ Angesteckt von den Möglichkeiten, die die Kunst für eine gelungene Wissenschaftskommunikation bietet, realisiert er nun auch in Frankfurt ein kleines „Science meets Art“-Projekt. Für die 30. Internationale Polartagung der Deutschen Gesellschaft für Polarforschung, dessen zweiter Vorsitzender Herrle ist, sollen Schüler*innen eines Kunstkurses von der Wissenschaft inspirierte Werke erschaffen, die während der Tagung im Februar 2027 am Fachbereich Geowissenschaften/Geographie der Goethe-Uni ausgestellt werden. So hat sich die Expedition zum Indischen Ozean nicht nur für die Forschung bezahlt gemacht.

Zum Haiku

 

Die JOIDES Resolution war ein weltweit führendes Forschungsschiff für wissenschaftliche Tiefseebohrungen. Seit 1985 untersuchte sie im Rahmen des International Ocean Discovery Program (IODP) die Erdgeschichte, Klimaveränderungen und Plattentektonik anhand von Bohrkernen aus dem Meeresboden. Mit einer Bohrkapazität von bis zu 8.235 Metern lieferte sie entscheidende Erkenntnisse über die ozeanische Kruste und vergangene Klimazyklen. Neben der wissenschaftlichen Arbeit begleitete stets ein „Public Outreach Officer“ die Expeditionen, um der Öffentlichkeit die Forschung und ihre Bedeutung zugänglich zu machen. Nach fast 40 Jahren wissenschaftlicher Missionen wurde die JOIDES Resolution im September 2024 außer Dienst gestellt.

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