Algorithmen, Avocados und Abenteuer
Wie ein Forschungsfreisemester das Eintauchen in eine fremde Kultur und eine neue Forschungskooperation ermöglicht
Johannes Gutenberg Universitaet Mainz
Der Schritt ins Ausland war für Prof. Dr. Sebastian Erdweg ein bewusstes Abenteuer. Als der Informatiker der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) sein Forschungsfreisemester plante, hatte er nicht nur eine akademische Kooperation im Sinn, sondern auch Familienerlebnisse in einem fremden Land. Als Gastprofessor ging er schließlich an die Universidad de Chile – und brachte neben prägenden Erlebnissen auch ein großangelegtes Drittmittelprojekt mit nach Hause.
"Wir haben zwei kleine Kinder, meine Frau war in Elternzeit und die Gelegenheit eines Forschungsfreisemesters wollten wir für eine längere gemeinsame Reise nutzen", erzählt Prof. Dr. Sebastian Erdweg, der an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) die Forschungsgruppe "Programming Languages" leitet. Für eine zehnwöchige Gastprofessur besuchte er die Universidad de Chile, eine der stärksten Forschungseinrichtungen auf diesem Gebiet in Südamerika, gemeinsam mit seiner Familie. "Wir reisten von September bis November 2020, also im chilenischen Frühling", erklärt Erdweg. "Meiner Familie sollte die Reise gemeinsame Erlebnisse einbringen – und mir die Freiheit, meine Kollegen und ihre Arbeit besser kennenzulernen."
Erdwegs Team an der JGU arbeitet an neuen Programmiersprachen und -werkzeugen, die Entwicklern helfen sollen, zuverlässige und effiziente Software zu erstellen. Ein Schwerpunkt der Gruppe liegt auf sogenannten domänenspezifischen Sprachen (DSLs), die für spezielle Anwendungsbereiche entworfen werden, ein anderer auf der statischen Programmanalyse, die Fehler bereits vor dem Ausführen des Programms identifiziert. Beim inkrementellen Rechnen, seinem dritten Fokus, werden nur die geänderten Teile einer Berechnung neu ausgeführt. "Das spart gerade bei großen Datenmengen oder komplexen Anwendungen Zeit und Ressourcen", erklärt Erdweg, dem für dieses Thema kürzlich ein ERC Consolidator Grant zuerkannt wurde.
Gletscher und Guanacos
Für seine Entscheidung, während des Forschungsfreisemesters nach Chile zu gehen, gab es "anders als bei den meisten Projekten keine inhaltliche Notwendigkeit", so Erdweg. "Mit meinen chilenischen Kollegen, den Informatikern Prof. Dr. Éric Tanter und Prof. Dr. Matías Toro Ipinza, wollte ich einfach das gemeinsame wissenschaftliche Potenzial entdecken – ohne eine Verpflichtung, sofort Ergebnisse zu liefern". Er hielt zwei Gastvorlesungen und einige Forschungsvorträge in Santiago de Chile. "Dabei haben wir schnell erkannt, dass sich unsere Interessen in vielerlei Hinsicht ergänzen."
Während das Mainzer Team Expertise in der Vorhersage von Programmverhalten mittels abstrakter Interpretation hat, liegt ein Schwerpunkt der chilenischen Forschenden in der graduellen Typisierung, bei der Programme sowohl vor als auch während der Ausführung auf Fehler überprüft werden. Die Kombination der beiden Schwerpunkte, so die gemeinsame Erkenntnis, könnte einen neuen Ansatz zu tief vernetzten und theoretisch fundierten Hybridanalysen liefern, mit denen sich Programme noch präziser auf Fehler und Optimierbarkeit prüfen lassen.
Dabei sei gerade der persönliche Austausch vor Ort "von unschätzbarem Wert" gewesen. "In der Informatik kann man, wie heutzutage in fast allen Disziplinen, vieles auch aus der Ferne machen", betont Erdweg. "Aber erst durch persönliche Begegnungen lernt man die Arbeitsweisen des anderen besser zu verstehen und baut vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen auf. Innerhalb einer Firma mag es eine einheitliche Arbeitskultur geben, aber in der akademischen Welt unterscheidet sich vieles zwischen den Universitäten – von der Lehre bis zur Forschung und Infrastruktur." Der persönliche Kontakt schaffe zudem das nötige Vertrauen, um gemeinsam kreativ zu sein und offen über noch unausgereifte Ideen zu sprechen. "In unserer Forschung ist im Grunde jede Veröffentlichung eine 'Erfindung', die man schützen möchte. Gleichzeitig entsteht aus dem kreativen Austausch viel Neues." Um diese Ideen zu teilen – und sie gemeinsam weiterentwickeln zu können – brauche es ein Vertrauensverhältnis, "das in Online-Meetings so nicht entstehen kann".
Doch der Aufenthalt brachte nicht nur wissenschaftliche Erfolge, sondern auch viele persönliche Eindrücke. "Wir haben in Chile gekocht, eingekauft und waren auf Straßenfesten – und das auch fernab von Touristengegenden", so Erdweg. "Das hat uns tiefere Einblicke in das Land geboten und uns in die Kultur eintauchen lassen." Freie Zeit nutzte die Familie mit ihren Kindern im Alter von 10 Monaten beziehungsweise 2 Jahren, um das Land zu erkunden. "Fast jedes Wochenende unternahmen wir Ausflüge", erzählt Erdweg. "Ein Highlight für die Kinder war eine Wanderung zu einem Gletscher in den Anden, ein anderer ein Trip nach Patagonien." Dort begeisterten sie sich insbesondere für die Guanacos, wilde Verwandte der Lamas, die frei durch die karge Landschaft streifen. "Und Avocados, die in Chile reichlich vorhanden sind, gehörten schnell zu den Lieblingsspeisen unserer Familie." Es sei eine prägende Zeit gewesen. "Besonders mein Sohn, der in Chile seinen dritten Geburtstag feierte, hat viel gelernt: zum Beispiel wie man sich auch ohne gemeinsame Sprache mit den Kindern vor Ort austauschen kann."
Wellblechhütten und Bankenviertel
Die Zeit in Chile öffnete der Familie aber auch die Augen für soziale Unterschiede: "Dort gibt es eine Kluft zwischen Arm und Reich, die wir so in Deutschland nicht kennen: Auf der einen Seite Wellblechhütten, auf der anderen das glitzernde Bankenviertel." Diese Unterschiede spiegeln sich auch im Universitätsalltag wider, etwa wenn Doktoranden oft auf Stipendien angewiesen seien und ob der teuren Mieten in der Hauptstadt häufig bei ihren Eltern wohnten. "Aufgrund dieser Unterschiede sind auch die Sicherheitsvorkehrungen an der Universidad de Chile deutlich stärker als an vielen europäischen Universitäten", erklärt Sebastian Erdweg. "So überwacht ein Sicherheitsdienst den Zugang zum Campus streng. Und um die Unigebäude zu betreten, braucht man eine spezielle Identifikationskarte."
Für Erdweg war das zwar ungewohnt, gab ihm aber auch ein Gefühl der Sicherheit – insbesondere nach einem Vorfall gleich am ersten Tag. "Als ich mit meiner Frau und den Kindern in der Innenstadt unterwegs war, wurde mir mein Handy aus der Hosentasche gestohlen." Ihr Sicherheitsgefühl habe sich aber rasch wieder aufgebaut, "insbesondere durch die wirklich schönen Erlebnisse und die Gastfreundschaft der Kollegen." So lud Éric Tanter die Familie mehrfach zum Grillen in seinem Garten ein.
Das persönliche Vertrauen, das dabei zwischen den Forschenden entstand, ebnete schließlich den Weg zu einem längerfristigen gemeinsamen Drittmittelprojekt. "Nur zwei Wochen nach unserer Rückkehr sahen wir einen 'Joint Call for Proposals' der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der chilenischen Nationalen Agentur für Forschung und Entwicklung (ANID) – und entschieden uns sofort, etwas einzureichen", erzählt Erdweg. "Dank der intensiven Wochen vor Ort konnte unser Team von einer eingespielten Zusammenarbeit berichten – eine Seltenheit bei solchen Anträgen."
Offen sein für das Ungewisse
In einem gemeinsamen Projekt entwickeln die Teams aus Santiago de Chile und Mainz nun neue Methoden zur zuverlässigen Erkennung von Programmierfehlern. "Dabei versuchen wir, am Beispiel der Programmiersprache WebAssembly Programmanalysen zu verbessern." Erdweg, Tanter und Toro kombinieren ihre jeweiligen Expertisen in Abstrakter Interpretation und gradueller Typisierung, um eine neue Analysemethode zu entwickeln. "Ziel ist es, Sicherheitslücken in Programmen frühzeitig zu erkennen und ihre Ausführung sicherer und effizienter zu machen."
Mit einem Gesamtbudget von 450.000 Euro, davon 350.000 Euro für die JGU, ist es das erste gemeinsame Informatikprojekt der beiden Universitäten – und eine direkte Folge seines Forschungsfreisemesters, betont Erdweg. "Denn erst die Freiheit, ohne konkretes Ziel zu forschen, und die Begegnungen mit den Menschen vor Ort haben das möglich gemacht."
Mittlerweile ist das Forschungsprojekt erfolgreich angelaufen. Im Juni 2024 verbrachten chilenische Kollegen zwei Wochen vor Ort in Mainz. "Das hat unser Projekt weiter vorangebracht und die Zusammenarbeit noch vertieft", erklärt Erdweg. Viel könne nun daraus entstehen – gemeinsame Veröffentlichungen, Doktorandenaustausch und ganz bestimmt auch weitere Projekte. Der Informatiker hofft, dass auch andere Forschende sich zu solchen Auslandsreisen inspirieren lassen: "Offen zu sein für das Ungewisse und bereit für neue, bereichernde Eindrücke."
Weiterführende Links:
- Prof. Dr. Sebastian Erdweg
- Forschungsgruppe "Programming Languages" am Institut für Informatik der JGU
- Institut für Informatik der JGU
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