FRANKFURT. Kiefertragende Wirbeltiere wie wir Menschen verfügen anders als primitivere Organismen nicht nur über ein angeborenes, sondern auch über ein adaptives Immunsystem, das in der Lage ist, sich auf alle möglichen Angreifer einzustellen. Denn irgendwann im Lauf der Evolution ist es einem unserer Vorfahren offenbar gelungen, einen DNA-Parasiten zu zähmen, der sich in sein Genom eingenistet hatte. So wurde aus dem Parasiten das Gen für ein Enzym, das zur Schaltzentrale immunologischer Diversität avancierte. Dieses Enzym RAG1/2 schneidet aus der DNA bestimmter Chromosomen in heranreifenden Immunzellen (Lymphozyten) Bruchstücke aus und rekombiniert sie in einem lotterieähnlichen Verfahren zu funktionsfähigen Genen. Diese somatische Rekombination vervielfacht die Variabilität von Antikörpern und T-Zell-Rezeptoren. Sie ist eine Voraussetzung dafür, dass unser Körper rund zehn Milliarden verschiedene Antikörper bilden kann, obwohl er nur rund 20.000 Proteinbaupläne in Form von Genen besitzt. David G. Schatz hat das Enzym RAG1/2 entdeckt, Frederick W. Alt die Enzyme, die die von RAG1/2 zerschnittene DNA reparieren. „Alt und Schatz haben in jahrzehntelanger Forschung Licht in die zuvor verborgene Entstehung unserer adaptiven Immunität gebracht und damit unser Wissen über die Entwicklung des Immunsystems auf eine neue Stufe gehoben“, würdigte Prof. Dr. Thomas Boehm, der Vorsitzende des Stiftungsrates der Paul-Ehrlich-Stiftung, die Leistung der beiden Hauptpreisträger.
Das Enzym RAG1/2 ist der Motor der somatischen Rekombination. Ohne ihn können keine funktionstüchtigen B- und T-Zellen, kann keine wirksame adaptive Immunabwehr entstehen. Viele Fälle schwerer Immundefizienz werden von Mutationen der RAG-Gene verursacht und manche Lymphome und Leukämien stehen mit Fehlfunktionen der von diesen Genen codierten Enzyme in Zusammenhang. Umso wichtiger ist es, neben dem molekularem Mechanismus auch deren evolutionären Ursprung und deren Verhalten im lebendigen Zellkern zu kennen.
Nach den Erkenntnissen von Schatz stammt RAG1/2 von einem Gen ab, das vor Jahrmillionen als eine Art eigennütziger Schmarotzer nach Belieben durch das Genom unserer sehr frühen Vorfahren zu springen begann. In strukturbiologischen Studien hat Schatz diese Sprünge (Transpositionen) über mehrere Stufen der Evolution nachvollzogen. Er hat gezeigt, mit welchen biochemischen Tricks es uns Wirbeltieren dabei gelang, das springende Gen RAG1/2 an einer bestimmten Stelle zu fixieren und für das Immunsystem nutzbar zu machen.
Während sie durch den Zellkern unreifer Lymphozyten wandern, führen RAG-Enzyme Chromatinknäuel, in denen die DNA platzsparend aufgewickelt ist, immer wieder vorübergehend zu Rekombinationszentren zusammen. Dort nehmen sie ein Chromatin-Scanning vor, das Alt erstmals beschrieben hat. Sie ziehen einen Chromatinfaden, der mehr als eine Million DNA-Buchstaben lang sein kann, wie eine Schlaufe durch das Rekombinationszentrum. So liegen weit entfernte Genabschnitte plötzlich einander gegenüber und können sicher miteinander verknüpft werden.
Die B- und die T-Lymphozyten, auf denen die erworbene Immunität gründet, sind Bestandteile unseres Blutes, in dem beim gesunden Menschen täglich mindestens 500 Milliarden alte Zellen durch neue ersetzt werden. Sie entstehen aus hämatopoetischen Stammzellen im Knochenmark, aus denen sie wie alle anderen Blutkörperchen auf divergierenden Entwicklungslinien über mehrere Stufen ausreifen. Die daraus resultierenden Stammbäume und Verwandtschaftsbeziehungen zu bestimmen, ist medizinisch von größtem Interesse, beispielsweise um festzustellen, an welcher Abzweigung eine Leukämiezelle entsteht. Der diesjährige Nachwuchspreisträger Leif S. Ludwig hat ein Verfahren erfunden, dass der Humanmedizin erstmals die Möglichkeit eröffnet, dies relativ preiswert, schnell und zuverlässig zu tun. Ludwigs bereits an einzelnen Patienten erprobte Methode verknüpft die Analyse von Mutationen in Mitochondrien mit neuesten Technologien zur Gensequenzierung einzelner Zellen.
Paul Ehrlich- und Ludwig-Darmstaedter-Preis 2023
https://www.uni-frankfurt.de/124912621/2023_Alt_Schatz
Frederick W. Alt, Ph.D., ist Charles A. Janeway Professor of Pediatrics und Director of the Program in Cellular and Molecular Medicine am Boston Children's Hospital, ein Howard Hughes Medical Institute Investigator, sowie Professor of Genetics an der Harvard Medical School. https://www.childrenshospital.org/research/labs/alt-laboratory-research
David G. Schatz, Ph.D., ist Professor of Molecular Biophysics and Biochemistry an der Yale University and Chairperson of the Department of Immunobiology an der Yale School of Medicine. https://medicine.yale.edu/profile/david-schatz/
Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreis 2023
https://www.uni-frankfurt.de/131228185/2023_Ludwig
Dr. rer. nat. Dr. med. Leif S. Ludwig leitet die Emmy Noether-Forschungsgruppe „Stammzelldynamiken und Mitochondriale Genomik“ am Berlin Institute of Health in der Charité und dem Max Delbrück Center. https://www.mdc-berlin.de/de/ludwig
Der Paul Ehrlich-und-Ludwig Darmstaedter-Preis
Der Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis ist der renommierteste Medizinpreis Deutschlands. Er ist mit 120.000 Euro dotiert und wird traditionell an Paul Ehrlichs Geburtstag, dem 14. März, in der Frankfurter Paulskirche verliehen. Mit ihm werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geehrt, die sich auf dem von Paul Ehrlich vertretenen Forschungsgebiet besondere Verdienste erworben haben, insbesondere in der Immunologie, der Krebsforschung, der Hämatologie, der Mikrobiologie und der Chemotherapie. Finanziert wird der seit 1952 verliehene Preis vom Bundesgesundheitsministerium, dem Verband Forschender Arzneimittelhersteller e.V. und durch zweckgebundene Spenden folgender Unternehmen, Stiftungen und Einrichtungen: Else Kröner-Fresenius-Stiftung, Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, C.H. Boehringer Sohn AG & Co. KG, Biotest AG, Hans und Wolfgang Schleussner-Stiftung, Fresenius SE & Co. KGaA, F. Hoffmann-LaRoche Ltd., Grünenthal Group, Janssen-Cilag GmbH, Merck KGaA, Bayer AG, Georg von Holtzbrinck GmbH & Co.KG, GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG, B. Metzler seel. Sohn & Co KGaA. Die Preisträger werden vom Stiftungsrat der Paul Ehrlich-Stiftung ausgewählt. Eine Liste der Stiftungsratsmitglieder ist auf der Internetseite der Paul Ehrlich-Stiftung hinterlegt.
Der 2006 erstmals vergebene Paul Ehrlich-und-Ludwig Darmstaedter-Nachwuchspreis wird von der Paul Ehrlich-Stiftung einmal jährlich an einen in Deutschland tätigen Nachwuchswissenschaftler oder eine in Deutschland tätige Nachwuchswissenschaftlerin verliehen, und zwar für herausragende Leistungen in der biomedizinischen Forschung. Das Preisgeld von 60.000 € muss forschungsbezogen verwendet werden. Vorschlagsberechtigt sind Hochschullehrer und Hochschullehrerinnen sowie leitende Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen an deutschen Forschungseinrichtungen. Die Auswahl der Preisträger erfolgt durch den Stiftungsrat auf Vorschlag einer achtköpfigen Auswahlkommission.
Die Paul Ehrlich-Stiftung
Die Paul Ehrlich-Stiftung ist eine rechtlich unselbstständige Stiftung, die treuhänderisch von der Vereinigung von Freunden und Förderern der Goethe-Universität verwaltet wird. Ehrenpräsidentin der 1929 von Hedwig Ehrlich eingerichteten Stiftung ist Professorin Dr. Katja Becker, Präsidentin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die auch die gewählten Mitglieder des Stiftungsrates und des Kuratoriums beruft. Vorsitzender des Stiftungsrates der Paul Ehrlich-Stiftung ist Professor Dr. Thomas Boehm, Direktor am Max-Planck-Institut für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg, Vorsitzender des Kuratoriums ist Professor Dr. Jochen Maas, Geschäftsführer Forschung & Entwicklung, Sanofi-Aventis Deutschland GmbH. Prof. Dr. Wilhelm Bender ist in seiner Funktion als Vorsitzender der Vereinigung von Freunden und Förderern der Goethe-Universität zugleich Mitglied des Stiftungsrates der Paul Ehrlich-Stiftung. Der Präsident der Goethe-Universität ist in dieser Funktion zugleich Mitglied des Kuratoriums.
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Die Goethe-Universität ist eine forschungsstarke Hochschule in der europäischen Finanzmetropole Frankfurt. 1914 mit privaten Mitteln überwiegend jüdischer Stifter gegründet, hat sie seitdem Pionierleistungen erbracht auf den Feldern der Sozial-, Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, Medizin, Quantenphysik, Hirnforschung und Arbeitsrecht. Am 1. Januar 2008 gewann sie mit der Rückkehr zu ihren historischen Wurzeln als Stiftungsuniversität ein hohes Maß an Selbstverantwortung. Heute ist sie eine der drei größten deutschen Universitäten. Zusammen mit der Technischen Universität Darmstadt und der Universität Mainz ist die Goethe-Universität Partner der länderübergreifenden strategischen Universitätsallianz Rhein-Main. www.goethe-universitaet.de