News Release

Was die Evolution über die Funktion von Bitterrezeptoren verrät

Vom Quastenflosser zum Menschen

Peer-Reviewed Publication

Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der TU München

Living fossil: Latimeria chalumnae, a species of coelacanth

image: Living fossil: Latimeria chalumnae, a species of coelacanth (family Latimeriidae). view more 

Credit: Graphic by Sabine Bijewitz from @LeibnizLSB, Template: Drawing by former FishBase artist Robbie Cada.

Freising 02.02.2021 - Um die chemische Zusammensetzung von Nahrungsmitteln aus physiologischer Sicht bewerten zu können, ist es wichtig, die Funktion der Rezeptoren zu kennen, mit denen Lebensmittelinhaltsstoffe interagieren. Zu diesen gehören auch Sensoren für Bitterstoffe, die sich während der Evolution zuerst bei Knochenfischen wie dem Quastenflosser entwickelt haben. Was 400 Mio. Jahre Entwicklungsgeschichte über die Funktion der Fisch-, aber auch der menschlichen Bitterrezeptoren verraten, publizierte ein Forscherteam unter Leitung des Leibniz-Instituts für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München und der Universität Köln kürzlich in der Fachzeitschrift Genome Biology and Evolution.

Entwicklungsgeschichtlich betrachtet sind Bitterrezeptoren im Vergleich zu anderen Chemorezeptoren, wie z. B. Geruchsrezeptoren, eine relativ neue Erfindung der Natur. Ihre Funktion, Wirbeltiere vor dem Verzehr potentiell giftiger Substanzen zu schützen, ist seit langem wissenschaftlich anerkannt. Neuer sind Beobachtungen, wonach Bitterrezeptoren noch weitere, über die Geschmackswahrnehmung hinausgehende Funktionen besitzen. Hierzu zählen Aufgaben in der Abwehr von krankheitserregenden Bakterien, bei der Stoffwechselregulation sowie möglicherweise auch Funktionen als endogene Sensoren für körpereigene Stoffwechselprodukte und Hormone.

Quastenflosser und Zebrafisch im Vergleich

Das Wissenschaftlerteam um die beiden Biologen Sigrun Korsching von der Universität Köln und Maik Behrens vom Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie liefert nun weitere Anhaltspunkte, die diese Hypothese stützen. In seiner aktuellen Studie hat das Team zwei ursprüngliche Bitterrezeptortypen vom Quastenflosser (Latimeria chalumnae) mit vier weiteren vom Zebrafisch (Danio rerio) phylogenetisch, funktionell und strukturell verglichen. Hierzu führte das Forscherteam u. a. umfangreiche Funktionsstudien mit Hilfe eines etablierten, zellulären Testsystems sowie computergestützte Modelling-Analysen durch. Das Ziel war, einen tiefen Einblick in die Entwicklungsgeschichte der Bitterrezeptoren zu erhalten, um auf diese Weise auch mehr über deren Funktionen zu erfahren.

Wie die Studienergebnisse zeigen, verfügen die zwei Fischarten u. a. über je ein homologes Bitterrezeptorgen. Beide Gene sind mutmaßlich aus einem Ur-Gen hervorgegangen. Die Bitterstoff-Erkennungsspektren der zugehörigen Fischrezeptoren waren dabei nach den Resultaten der Funktionsstudien trotz 400 Millionen Jahren getrennter Evolution zum Großteil identisch. „Besonders spannend an unseren Ergebnissen ist, dass die ursprünglichen Fischrezeptoren im zellulären Testsystem Substanzen erkannten, auf die auch menschliche Bitterrezeptoren reagieren. Hierzu zählen u. a. Gallensäuren“, sagt Co-Autorin Antonella Di Pizio vom Leibniz-Institut.

Über 400 Millionen Jahre Selektionsdruck

„Es muss also ein Selektionsdruck bestehen oder zumindest bis zur Entwicklung des Menschen bestanden haben, der dazu führt, dass menschliche Bitterrezeptoren immer noch dieselben Bitterstoffe erkennen können, wie ein Knochenfisch vor über 400 Millionen Jahren,“ folgert Geschmacksforscher Maik Behrens. Sigrun Korsching ergänzt: „Dies spricht für eine oder mehrere wichtige Funktionen der Bitterrezeptoren, auch während der menschlichen Evolution.“

„Quastenflosser sind Fleischfresser. Daher könnte man spekulieren, dass die Existenz einer Bitterrezeptorvariante, die hauptsächlich Steroidhormone und Gallensäuren erkennt, vor dem Verzehr giftiger Fische schützt, die in ihrer Leber und Gallenblase nicht nur Gallensäuren, sondern auch hochwirksame Nervengifte enthalten können. So lebt der giftige Kugelfisch Arothron hispidus in den gleichen Gewässern wie der Quastenflosser“, sagt Maik Behrens. Beim Menschen und auch beim Zebrafisch sei es aber fraglich, ob eine solche Rezeptorvariante aus Evolutionssicht erhalten geblieben wäre, wenn sie nicht noch andere Funktionen im Inneren des Körpers besitzen würde. Für solche extraoralen Funktionen spräche zudem, dass sich Bitterrezeptoren auch auf menschlichen Organen wie Herz, Gehirn oder Schilddrüse finden, so Behrens weiter. Ein Ziel seiner Forschung ist es, dazu beizutragen, die systembiologischen Wirkungen von Bitterstoffen zu verstehen, unabhängig davon, ob sie über die Nahrung in den Körper gelangt sind oder sie zu den körpereigenen Stoffen gehören.

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Originalpublikation:

Behrens M, Di Pizio A, Redel U, Meyerhof W, Korsching SI (2020) Genome Biol Evol, evaa264, DOI: 10.1093/gbe/evaa264. At the root of T2R gene evolution: Recognition profiles of coelacanth and zebrafish bitter receptors

https://academic.oup.com/gbe/advance-article/doi/10.1093/gbe/evaa264/6045956

Kontakt:

Dr. habil. Maik Behrens
Sektion II, Arbeitsgruppe Taste Systems Reception & Biosignals
Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie
an der Technischen Universität München (Leibniz-LSB@TUM)
E-Mail: m.behrens.leibniz-lsb@tum.REMOVE-THIS.de

Dr. Antonella Di Pizio
Sektion III, Arbeitsgruppe Molecular Modeling
Leibniz-LSB@TUM
Tel.: +49 816171 2904
E-Mail: a.dipizio.leibniz-lsb@tum.REMOVE-THIS.de

Prof. Dr. Sigrun Korsching
Institut für Genetik
Department für Biologie
Universität zu Köln (UzK)
E-Mail: sigrun.korsching@uni-koeln.REMOVE-THIS.de

Presseverantwortlich:

Dr. Gisela Olias
Wissenstransfer, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Leibniz-LSB@TUM
Tel.: +49 8161 71-2980
E-Mail: g.olias.leibniz-lsb@tum.REMOVE-THIS.de

http://www.leibniz-lsb.de

Informationen zum Institut

Das Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München (Leibniz-LSB@TUM) besitzt ein einzigartiges Forschungsprofil. Seine Wissenschaftler kombinieren Methoden der biomolekularen Grundlagenforschung mit Analysemethoden der Bioinformatik und analytischen Hochleistungstechnologien. Ihr Ziel ist es, die komplexen Inhaltsstoffprofile von Rohstoffen bis hin zu den finalen Lebensmittelprodukten zu entschlüsseln und deren Wirkung auf den Menschen aufzuklären. Basierend auf ihrer Forschung entwickelte Produkte sollen dazu beitragen, die Bevölkerung auch in Zukunft nachhaltig und ausreichend mit gesundheitsfördernden, wohlschmeckenden Lebensmitteln zu versorgen. Darüber hinaus sollen die neu gewonnenen wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu dienen, personalisierte Ernährungskonzepte zu entwickeln, die zum Beispiel Menschen mit einer Nahrungsmittelunverträglichkeit helfen, ohne dass die Lebensqualität eingeschränkt und die Gesundheit gefährdet ist.

Das Leibniz-LSB@TUM ist ein Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft, die 96 selbständige Forschungseinrichtungen verbindet. Ihre Ausrichtung reicht von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften. Leibniz-Institute widmen sich gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevanten Fragen. Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Forschung, auch in den übergreifenden Leibniz-Forschungsverbünden, sind oder unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer, vor allem mit den Leibniz-Forschungsmuseen. Sie berät und informiert Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Leibniz-Einrichtungen pflegen enge Kooperationen mit den Hochschulen - u.a. in Form der Leibniz-WissenschaftsCampi, mit der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland. Sie unterliegen einem transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 20.000 Personen, darunter 10.000 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute liegt bei mehr als 1,9 Milliarden Euro.


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