Zum Aufbau des Neocortex - eines Gehirnareals, das eine wichtige Rolle bei der höheren kognitiven Wahrnehmung spielt - generieren Stammzellen Milliarden Neuronen unterschiedlichen Typs. NeurowissenschafterInnen aus der Schweiz, aus Belgien sowie vom Institute of Science and Technology Austria (IST Austria) konnten nun zeigen, dass die Stammzellen im Neocortex verschiedene Reifestadien durchleben, aus denen jeweils ein anderer Neuronentyp hervorgeht. Die Produktion des korrekten Neuronentyps zum richtigen Zeitpunkt ist an die Funktion eines spezifischen Proteinkomplexes gebunden.
Mit seinen tiefen Furchen und zahlreichen Windungen hat der Neocortex unsere Vorstellung vom menschlichen Gehirn geprägt. In dieser äußersten Schicht der Großhirnrinde tummeln sich trotz ihrer geringen Dicke von wenigen Millimetern bei Erwachsenen über 15 Milliarden Neuronen. Die Informationsverarbeitung im Neocortex ermöglicht es uns, unsere Umwelt bewusst wahrzunehmen. Geht während der Entwicklung des Neocortex etwas schief, können ernsthafte neurologische Störungen wie Autismus oder Schizophrenie die Folge sein. Wie jedoch im Zuge der embryonalen Entwicklung aus Stammzellen eine Gehirnrinde korrekter Zusammensetzung und Größe entsteht, ist nicht vollständig geklärt. Die aktuelle Studie der WissenschafterInnen rund um Denis Jabaudon von der Université de Genève, Schweiz, und Laurent Nguyen von der Université de Liège, Belgien, sowie der IST Austria-Forschungsgruppe von Professor Simon Hippenmeyer bietet Antworten auf die Frage, wie die Stammzellen des Neocortex jene große Anzahl an Neuronen unterschiedlicher Art und Funktion generieren können, die die neuronale Vielfalt des menschlichen Gehirns ausmacht.
Die Zeit als Maßstab neuronaler Identität
Die ForscherInnen liefern Belege dafür, dass die Stammzellen zu verschiedenen Zeitpunkten mit unterschiedlichen Genexpressions- bzw. Transkriptionsprogrammen ausgestattet sind und diese jeweils spezifischen genetischen Fingerabdrücke" an ihre Tochterzellen, also die Neuronen, weitergeben. Die sich laufend ändernden bzw. neu dazugewonnenen Eigenschaften der Stammzellen und Neuronen gehen mit einer zunehmenden Komplexität ihrer Genexpressionsprogramme einher: Während in frühen Stadien Programme dominieren, die vorrangig zellinterne Prozesse wie zum Beispiel den Zellzyklus steuern, nehmen mit steigendem Reifegrad jene Programme zu, die auf äußere Reize angewiesen sind und somit mit der Umgebung interagieren.
Ein Proteinkomplex mit großer Verantwortung
Als Kontrollfaktor dieser zeitlich gebundenen Aktivierung unterschiedlicher Genexpressionsprogramme hatten die ForscherInnen spezifische regulatorische Proteine in Verdacht. Ein Proteinkomplex, der nur in frühen Stammzellstadien stark exprimiert vorliegt, nicht jedoch zu späteren Zeitpunkten, ist der sogenannte Polycomb Repressive Complex 2 (PRC2). Zur Beantwortung der Frage, ob PRC2 tatsächlich die Reifung der Stammzellen steuert, suchten die Schweizer und belgischen WissenschafterInnen die Zusammenarbeit mit Professor Simon Hippenmeyer und Postdoc Nicole Amberg. Und tatsächlich: Mithilfe genetischer Methoden konnten die IST Austria-ForscherInnen jegliche PRC2-Aktivität während der Neocortex-Entwicklung in der Maus stilllegen und damit die vermutete Funktion des Proteinkomplexes bestätigen.
Protein-Fehlfunktion mit drastischen Folgen
Die Inaktivierung von PRC2 hatte weitreichende Folgen: Die Stammzellen reiften zu schnell und produzierten falsche Neuronentypen zum falschen Zeitpunkt - der reguläre Reifeprozess der Stammzellen war gestört. Hinzu kam, dass die Abwesenheit von PRC2 eine drastische Reduktion der Gesamtzahl an produzierten Neuronen bedingte. In Kombination führten diese Entwicklungen zu Mikrozephalie, also einem zu klein gewachsenen Cortex bzw. Kopf, sowie einer falschen neuronalen Zusammensetzung. Nicole Amberg, die vor Kurzem das Hertha-Firnberg-Programm des FWF für ihre zukünftige Forschungsarbeit zugesprochen bekam: Die Ergebnisse zeigen einmal mehr, wie komplex und heikel die Entwicklung unseres Gehirns ist. Wir haben nun ein klareres Bild davon, wie neuronale Stammzellen den richtigen Typ und die richtige Anzahl an Neuronen produzieren - und können damit auch jene Strukturen und Mechanismen besser verstehen, die bei Fehlfunktion zu Fehlbildungen im Gehirn eines Embryos und damit zu neuronalen Entwicklungsstörungen führen."
Über das IST Austria
Das Institute of Science and Technology (IST Austria) in Klosterneuburg ist ein Forschungsinstitut mit eigenem Promotionsrecht. Das 2009 eröffnete Institut widmet sich der Grundlagenforschung in den Naturwissenschaften, Mathematik und Informatik. Das Institut beschäftigt ProfessorInnen nach einem Tenure-Track-Modell und Post-DoktorandInnen sowie PhD-StudentInnen in einer internationalen Graduate School. Neben dem Bekenntnis zum Prinzip der Grundlagenforschung, die rein durch wissenschaftliche Neugier getrieben wird, hält das Institut die Rechte an allen resultierenden Entdeckungen und fördert deren Verwertung. Der erste Präsident ist Thomas Henzinger, ein renommierter Computerwissenschafter und vormals Professor an der University of California in Berkeley, USA, sowie der EPFL in Lausanne. http://www.ist.ac.at
Tierwohl
Um die neuronalen Prozesse im Zuge der menschlichen Gehirnentwicklung zu verstehen, ist es unumgänglich, das Gehirn von Säugetieren - in diesem Fall von Mäusen - zu untersuchen. Derzeit stehen keine anderen Methoden hierfür als Alternative zur Verfügung. Die Tiere wurden gemäß der strengen in Österreich geltenden gesetzlichen Richtlinien aufgezogen, gehalten und behandelt.
Forschungsförderung
Die Forschungsarbeit im Zuge dieser Studie am IST Austria wurde durch Eigenmittel des IST Austria sowie eine Förderung des European Research Council (ERC) im Rahmen des Horizon 2020 Research and Innovation Program der Europäischen Union (Vertrag Nr. 725780 LinPro) finanziert. Nicole Ambergs Forschungsarbeit wird zudem durch das Hertha Firnberg-Programm des FWF (Vertrag Nr. T 1031-BBL) unterstützt.
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Science