[Wien, 29. Juni 2020] Die tiefer werdende Kluft zwischen der politischen Linken und Rechten gibt der Politikwissenschaft seit langem Rätsel auf. Ein internationales Team unter der Leitung von Forschern des Complexity Science Hub Vienna (CSH) bietet nun eine Erklärung an: Ihr neu entwickeltes Modell die "Weighted Balance Theory" WBT (gewichtete Gleichgewichtstheorie) sieht soziale Emotionen als treibende Kraft hinter der politischen Meinungsbildung. Die Arbeit erscheint im Journal of Artificial Societies and Social Simulation (JASSS).
Ein gewisser Grad an Polarisierung im politischen Meinungsspektrum wird in einer gesunden Demokratie als normal und sogar als vorteilhaft angesehen. In den letzten Jahrzehnten haben sich konservative und liberale Ansichten jedoch weiter auseinanderentwickelt als je zuvor, während sich die Meinungen zu unterschiedlichen Themen innerhalb einer Partei zunehmend vereinheitlichen. Behindert eine zu starke Polarisierung die Fähigkeit einer Nation, Bedrohungen wie die Coronavirus-Pandemie wirksam zu bekämpfen, kann Polarisierung sogar tödlich werden.
Wie entwickeln sich extreme Positionen?
"Wir fühlen ein hohes Maß an Ausgewogenheit, wenn wir mit Menschen umgehen, die wir mögen und mit denen wir in allen politischen Fragen übereinstimmen", erklärt der Erstautor der Studie, Simon Schweighofer, der zum Zeitpunkt der Abfassung der Arbeit am CSH arbeitete. Wir empfinden auch ein hohes Maß an Ausgewogenheit gegenüber denen, die wir hassen und mit denen wir nicht übereinstimmen", so der Experte für quantitative Sozialwissenschaft. Die menschliche Tendenz, ein emotionales Gleichgewicht aufrechtzuerhalten, wurde erstmals 1946 durch Fritz Heiders "Balancetheorie" beschrieben.
Was aber passiert, wenn Meinungen und Gefühle miteinander in Konflikt geraten, wenn Individuen also mit anderen, die sie mögen, politisch nicht übereinstimmen oder Menschen, die sie nicht mögen, thematisch zustimmen würden? "Die Menschen werden versuchen, dieses Ungleichgewicht zu überwinden, so Schweighofer, indem sie ihre Meinungen anpassen, um wieder in ein Gleichgewicht mit ihren Emotionen zu kommen.
In einem Teufelskreis von immer stärkeren Emotionen und immer extremeren Meinungen werden gemäßigtere Positionen allmählich ersetzt, bis die meisten Themen in der gleichen oft extrem polarisierten Weise gesehen werden wie es politisch Gleichgesinnte tun, so die Wissenschaftler.
"Es endet schließlich in totaler Polarisierung", ergänzt Co-Autor David Garcia (CSH und MedUni Wien). Nicht nur einzelne Themen wie Abtreibung, gleichgeschlechtliche Ehe und Kernenergie werden nun kategorisch befürwortet oder abgelehnt. "Wenn jemand für Wahlfreiheit ist, ist er oder sie gleichzeitig mit hoher Wahrscheinlichkeit für die Homo-Ehe, gegen die Nutzung von Atomenergie, für die Legalisierung von Marihuana und so weiter", so Garcia. Die theoretisch mögliche Vielfalt an Kombinationen von unterschiedlichen Meinungen ist zur traditionellen Links-Rechts-Spaltung zusammengeschrumpft.
Ein mathematisches Modell der Hyperpolarisierung
Um diesen Prozess zu simulieren, entwickelten die Forscher ein so genanntes agentenbasiertes Modell. Das mathematisches Modell zeigt die gleiche Meinungsbildungsdynamik , wie sie in realen politischen Prozessen beobachtet werden kann (siehe Videos).
"Wir nennen diese Kombination aus extremen Meinungen bei gleichzeitiger Vereinheitlichung der politischen Meinungen Hyperpolarisierung", so Simon Schweighofer. "Hyperpolarisierung wurde in gesellschaftlichen Theorien zur Meinungsbildung bisher übersehen. Unser gewichtetes Gleichgewichtsmodell übrigens ein wirklich interdisziplinäres Projekt, bei dem wir Forschungsstränge aus Psychologie, Politikwissenschaft und Meinungsdynamik in einen übergreifenden theoretischen Rahmen integriert haben , unser Modell also bietet eine neue Perspektive auf die Entstehung politischer Konflikte.
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Simon Schweighofer, Frank Schweitzer, David Garcia, A Weighted Balance Model of Opinion Hyperpolarization, Journal of Artificial Societies and Social Simulation 23 (3) 5 (2020) http://jasss.soc.surrey.ac.uk/23/3/5.html
About the Complexity Science Hub Vienna (CSH):
The mission of CSH Vienna is to host, educate, and inspire complex systems scientists dedicated to making sense of Big Data to boost science and society. Scientists at the Hub develop methods for the scientific, quantitative, and predictive understanding of complex systems. Focal areas include the resilience and efficiency of socio-economic and ecological systems, network medicine, the dynamics of innovation, and the science of cities.
The Hub is a joint initiative of AIT Austrian Institute of Technology, Central European University CEU, Danube University Krems, Graz University of Technology, IIASA International Institute for Applied Systems Analysis, IMBA, Medical University of Vienna, TU Wien, VetMedUni Vienna, Vienna University of Economics and Business, and Austrian Economic Chambers (WKO). http://www.csh.ac.at