Die faszinierenden Facettenaugen der Insekten bestehen meist aus hunderten Einzelaugen, den Facetten. Im Verlauf der Evolution ist eine enorme Vielfalt an Augengrößen und -formen entstanden, die eine Anpassung an unterschiedliche Lebensbedingungen darstellen. Unter der Leitung einer Emmy-Noether Forschergruppe der Universität Göttingen haben nun Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit Beteiligung der Universität Pablo de Olavide in Sevilla gezeigt, dass diese Unterschiede durch sehr verschiedene Veränderungen im Genom von Essigfliegen hervorgerufen werden können. Die Studie ist in der Fachzeitschrift Molecular Biology and Evolution erschienen.
Wer schon Schwebfliegen beim blitzartigen Richtungswechsel durch die Luft fliegen sehen hat, hat wahrscheinlich einen Paarungsversuch miterlebt, bei dem das Männchen ein schnell fliegendes Weibchen zielgenau verfolgt. Für diese spezielle visuelle Anforderung bestehen die riesigen Facettenaugen von Schwebfliegen aus bis zu 6.000 einzelnen Facetten, von denen spezielle zum Himmel gerichtete Einzelaugen besonders hochauflösend sind. Die meist im Holz lebenden Borkenkäfer dagegen nutzen kaum visuelle Informationen und haben entsprechend sehr kleine Augen mit maximal 300 Facetten. Diese enorme Vielfalt ist besonders beeindruckend, weil bisherige vergleichende Studien gezeigt haben, dass die Entwicklung von Insektenaugen, und übrigens auch unseren eigenen Augen, durch sehr ähnliche Prozesse und Gene gesteuert wird", sagt Nico Posnien von der Universität Göttingen, der Leiter der Studie. Es ist demnach spannend zu verstehen, wie angesichts sehr ähnlicher Gene die Vielfalt in der Augengröße- und Form entstehen kann.". Da viele Genprodukte in regulatorischen Netzwerken zusammenarbeiten, um die Entwicklung komplexer Organe zu steuern, stellt sich die Frage, ob ähnliche Unterschiede in der Augengröße durch Veränderungen an vergleichbaren Stellen innerhalb der Netzwerke hervorgerufen werden. Als Modell für ihre Studie nutzten die Forscherinnen und Forscher verschiedene Arten der Gattung Drosophila, von denen manche als Obstfliege in der heimischen Küche bekannt sind.
Eine auf Mauritius heimische Drosophila-Art weist bis zu 250 Facetten mehr auf als dessen Schwesterart. Obwohl die grundlegenden Entwicklungsvorgänge in beiden untersuchten Arten sehr ähnlich sind, wurden in deren Genom zahlreiche Unterschiede gefunden, die den beobachteten Unterschieden in der Augengröße zugrunde liegen könnten. Die detaillierte Analyse der Augenentwicklung in beiden Arten deutet darauf hin, dass Veränderungen in einem wichtigen zentralen Knoten des Gennetzwerkes zur Ausbildung deutlich größerer Augen bei der auf Mauritius heimischen Art führen. Interessanterweise sind in ähnlichen Arbeiten an anderen Drosophila-Arten Veränderungen in ganz anderen Knoten beobachtet worden. Demnach zeigen unsere Daten, dass Unterschiede in der Anzahl der Facetten durch sehr unterschiedliche Mechanismen hervorgerufen werden können", fasst die Erstautorin der Studie, Elisa Buchberger, zusammen.
Diese neuen Daten deuten darauf hin, dass Unterschiede in der Anzahl der Einzelaugen in verschiedenen Drosophila-Arten mehrmals unabhängig in der Evolution entstanden sind", sagt Micael Reis. Er ist Erstautor einer im letzten Jahr veröffentlichten Studie der Göttinger Forschergruppe. Insgesamt tragen die beiden Studien zu einem besseren Verständnis der Evolution komplexer Organe bei. Einige der in der Arbeit etablierten Methoden könnten auch für Studien in der Tier- und Pflanzenzucht angewandt werden, bei denen gezielt nach Veränderungen im Genom gesucht wird, die komplexe Charaktermerkmale, wie Milchproduktion oder Fruchtgrößen beeinflussen. In einem nächsten Schritt möchten wir verstehen, ob die unterschiedlich großen Augen einen Einfluss auf das Sehvermögen haben, also im Zusammenhang mit der Lebensweise der verschiedenen Fliegenarten stehen", sagt Posnien.
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Originalveröffentlichung: Elisa Buchberger et al. Variation in pleiotropic hub gene expression is associated with interspecific differences in head shape and eye size in Drosophila. Molecular Biology and Evolution (2021). Doi: https://doi.org/10.1093/molbev/msaa335
Kontakt:
Nico Posnien
Georg-August-Universität Göttingen
Johann-Friedrich-Blumenbach Institut für Zoologie and Anthropologie
Abteilung Entwicklungsbiologie
Justus-von-Liebig-Weg 11, 37077 Göttingen
Tel: 0551 3928662
E-mail: nposnie@gwdg.de
Web: http://www.posnien-lab.net
Twitter: @PosnienLab
Journal
Molecular Biology and Evolution