Baumringe können uns viel über das Klima in der Vergangenheit sagen und werden daher in der Wissenschaft für Klimarekonstruktionen genutzt - was gerade in Zeiten des Klimawandels von großer Bedeutung ist. Allerdings spiegeln die Jahrringe der Bäume seit den 1960er-Jahren die Temperaturentwicklung nicht mehr korrekt wider. Dieses als "Divergenz" bezeichnete Problem ist der Ausgangspunkt für ein neues Forschungsprojekt, für das der Paläoklimaforscher Prof. Dr. Jan Esper von der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (JGU) eine EU-Förderung über 2,5 Millionen Euro erhält. Esper und sein Team werden während der fünfjährigen Laufzeit des Projekts die Baumentwicklung an 100 Standorten der nördlichen Hemisphäre verfolgen und ein neues Modell entwickeln, um das Baumwachstum zu rekonstruieren und verlässliche Angaben für die Klimaforschung bereitzustellen. Der Europäische Forschungsrat, kurz ERC für European Research Council, hat für das Projekt MONOSTAR einen ERC Advanced Grant bewilligt, die höchstdotierte Fördermaßnahme der EU, die an herausragende Forscherinnen und Forscher vergeben wird.
Baumringe können mit einer Art Datenbank verglichen werden, in der die klimatischen Entwicklungen seit Hunderten von Jahren sehr detailliert hinterlegt sind, von der regionalen bis zur globalen Ebene. Klimarekonstruktionen sind allerdings darauf angewiesen, dass zwischen Baumwachstum und Klima ein verlässliches Verhältnis besteht. "Das hat bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts auch sehr gut funktioniert", sagt Prof. Dr. Jan Esper. "Aber seit den 1960er-Jahren halten die Jahrringe nicht mehr mit der Erwärmung Schritt." Das Divergenz-Problem wurde in den 1990ern als weitreichendes Phänomen erkannt: Es stellt nicht nur die Verlässlichkeit der Temperaturrekonstruktion auf der Basis von Jahrringen infrage, sondern es beeinflusst auch unser Verständnis davon, wie sensibel das Erdklima auf die vom Menschen verursachten Treibhausgase reagiert. "Das Problem betrifft alle jährlich aufgelösten Klimarekonstruktionen der letzten 1.000 bis 2.000 Jahre", so Esper.
Probenentnahmen und Beobachtungen an 100 Standorten auf der Nordhalbkugel
Der Wissenschaftler hat daher vorgeschlagen, zum einen zunächst neue Daten zu erheben. Dazu wird er mit seinem Team und Kooperationspartnern aus zahlreichen Ländern ein ausgesprochen internationales Projekt starten und das Wachstum verschiedener Nadelbaumarten an Kaltstandorten und in borealen Nadelwäldern der Nordhalbkugel erfassen. Messungen der Breite und Dichte von Baumringen erfolgen an 100 Standorten von den Rocky Mountains über die Alpen bis zum Himalaya. An zehn dieser Standorte werden zusätzlich umfangreiche Monitoring-Maßnahmen durchgeführt, um detaillierte Einflussgrößen für ein neues Baumringdichte-Modell zu erfassen. Die Bohrkernproben von allen Standorten werden in zwei Laboren in Deutschland sowie je einem Labor in Russland und der Schweiz ausgewertet.
Einfluss über die Klimaforschung hinaus auf Ökologie, Archäologie und Geschichtswissenschaft
Die Paläoklimatologie geht davon aus, dass die Temperatur nicht unbedingt das entscheidende Kriterium für das Divergenz-Problem ist. "Es gibt zahlreiche andere Einflussgrößen, wie beispielsweise Ozon oder Veränderungen in der Strahlung, die das Pflanzenwachstum an Extremstandorten beeinflussen können", so Esper. Die Ergebnisse von MONOSTAR, das Akronym steht für "Modelling non-stationary tree growth responses to global warming" könnten weitreichende Folgen haben: Wenn historische Warmzeiten und Klimaänderungen besser rekonstruiert werden können, wird dies nicht nur Klimaforschern helfen, sondern auch neue Perspektiven für Forschungen in der Ökologie, Archäologie und Geschichtswissenschaft anstoßen.
Auszeichnung für wissenschaftliche Exzellenz
Jan Esper hat an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn Geografie studiert und in Geografie promoviert. Nach einem Postdoc-Aufenthalt an der Columbia University, New York, setzte er seine Arbeiten zur Dendrochronologie an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL in der Schweiz fort und wurde an der Universität Bern habilitiert. Seit 2010 ist Esper Professor am Geographischen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und seit 2018 Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Literatur. Seine Forschungsschwerpunkte sind das Paläoklima, Stadtklima und die Dendrochronologie.
ERC Advanced Grants werden an herausragende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vergeben, um Projekte durchzuführen, die aufgrund ihres innovativen Ansatzes als hochriskant gelten, die dadurch aber erst neue Wege in dem jeweiligen Forschungsfeld eröffnen. Die Förderung erhalten nur Forscherinnen und Forscher, die bereits bedeutende Errungenschaften vorweisen können und die mindestens seit zehn Jahren auf international höchstem Niveau erfolgreich gearbeitet haben. Ausschlaggebend für die Förderung des ERC ist allein die wissenschaftliche Exzellenz der Forschenden und ihres Forschungsprojekts. Damit ist ein ERC Grant auch als individuelle Auszeichnung zu verstehen.
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Weiterführende Links:
https://www.blogs.uni-mainz.de/fb09climatology/ - Arbeitsbereich Klimatologie am Geographischen Institut ;
https://erc.europa.eu/news/erc-2019-advanced-grants-results - Pressemitteilung des European Research Council ;
https://erc.europa.eu/news-events/magazine/erc-2019-advanced-grants-examples - Projektbeispiele
Lesen Sie mehr:
https://www.uni-mainz.de/presse/aktuell/2601_DEU_HTML.php - Pressemitteilung "Globale Klimaextreme nach Vulkanausbrüchen" (13.09.2017) ;
https://www.uni-mainz.de/presse/55006.php - Pressemitteilung "Natürliche Klimaarchive spielen bedeutende Rolle bei Rekonstruktion des Klimas vergangener Epochen" (04.02.2013) ;
https://www.uni-mainz.de/presse/54735.php - Pressemitteilung "Internationales Forscherteam legt lückenlose Berechnung der Frühlingstemperaturen in Osteuropa seit dem Mittelalter vor" (15.01.2013) ;
https://www.magazin.uni-mainz.de/970_DEU_HTML.php - JGU MAGAZIN: "Finnische Bäume erzählen 2.000 Jahre Klimageschichte" (22. 08.2012) ;
https://www.uni-mainz.de/presse/52594.php - Pressemitteilung "Klimarekonstruktion ermöglicht erstmal präzise Berechnung des Abkühlungstrends in Nordeuropa über die letzten 2.000 Jahre" (09.07.2012)