News Release

Erinnerungen beobachten

Forschende am ISTA werfen einen Blick in den Hippocampus

Peer-Reviewed Publication

Institute of Science and Technology Austria

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Peter Jonas & Olena Kim

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Credit: (c) ISTA

Der Hippocampus, optisch passend benannt nach den griechischen Wörtern „hippos“ (Pferd) und „kampus“ (Seeungeheuer), ist eine wichtige Gehirnregion für die Gedächtnisbildung. Bis vor kurzem war es jedoch nicht klar, mit welchen konkreten molekularen Signalen die Gedächtnisbildung in Verbindung gebracht werden soll. Ein Forschungsteam des Institute of Science and Technology Austria (ISTA) und des Max-Planck-Instituts für multidisziplinäre Naturwissenschaften hat nun offenbar diese Blackbox geöffnet. Die Ergebnisse wurden in PLOS Biology veröffentlicht.

Henry Gustav Molaison, besser bekannt als Patient „H.M.“, litt an Epilepsie. Aufgrund seiner Anfälle wurde er an einen Chirurgen überwiesen, der die Epilepsie im Schläfenlappen seines Gehirns lokalisierte, einer Region, in der sich der Hippocampus befindet.
Am 1. September 1953 unterzog sich H.M. einer Gehirnoperation, bei der sein Hippocampus entfernt wurde, um seine Epilepsie zu heilen. Zwar waren nach der Operation die Epilepsie und die Anfälle verschwunden, doch H.M. entwickelte schwere Nebenwirkungen. Er litt nun unter anterograder Amnesie: Er konnte sich an alle Ereignisse vor der Operation erinnern, war aber nicht in der Lage, neue Erinnerungen zu bilden. Sein prägnanter Fall trug dazu bei, den Hippocampus mit der Gehirnfunktion und der Gedächtnisbildung in Verbindung zu bringen.

Heute gilt der Hippocampus als eine entscheidende Region im menschlichen Gehirn, die an der Gedächtnisbildung und der räumlichen Navigation beteiligt ist. Er wandelt das Kurzzeitgedächtnis in Langzeitgedächtnis um und erleichtert so die Wiedergabe persönlicher Erfahrungen.

In einer neuen Studie unter der Leitung von Olena Kim, Yuji Okamoto und Peter Jonas, Magdalena Walz Professor for Life Sciences am Institute of Science and Technology Austria (ISTA), hat ein internationales Team von Neurowissenschafter:innen neue Details über die molekularen Mechanismen der Gedächtnisverarbeitung aufgedeckt. Die Forschenden nahmen die sogenannte Moosfaser-Synapse (aus dem Englischen „mossy fiber synapse“) – ein wichtiger Verbindungspunkt zwischen bestimmten Nervenzellen (Neuronen) im Hippocampus – genau unter die Lupe. Mit verschiedensten Methoden untersuchten sie dessen Struktur, die wichtigsten Moleküle und ihre Funktionsweise.

Das Gedächtnis-Zentrum

Verschiedenste Neuronen sind im Hippocampus an der Gedächtnisverarbeitung beteiligt. Granularzellen beispielsweise sind wichtig für die Verarbeitung eingehender Informationen. „Diese Granularzellen erhalten verschiedene Signale aus anderen Hirnregionen, die sie verarbeiten und weiterleiten müssen“, erklärt Olena Kim, ISTA-Absolventin und nun Postdoc am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Diese Signale werden durch die Axone der Granularzellen weitergeleitet. Diese armartigen Ausläufer werden als Moosfasern bezeichnet und bilden eine Kontaktstelle zu den Pyramidenzellen – die Moosfaser-Synapse. An dieser Verbindung sorgen Neurotransmitter (Signalmoleküle) für eine Kommunikation, die schließlich die Bildung und Speicherung von Gedächtnisinhalten auslöst.

Charakteristisch für Moosfaser-Synapsen ist ihre hohe Plastizität, d. h. sie können ihre Aktivität, Struktur und Verbindungen auf der Grundlage von Reizen ändern. Diese Anpassungsfähigkeit hilft dem Hippocampus, Informationen korrekt zu verarbeiten und zwischen ähnlichen Hinweisen zu unterscheiden.

Kim erklärt dies anhand eines Beispiels: „Nehmen wir an, Sie treffen gleichzeitig auf einen Panther und eine schwarze Katze. Beide haben schwarzes Fell und haben katzenartige Eigenschaften. Dennoch können Sie die Katze und den Panther unterscheiden. Die Moosfaser-Synapsen spielen hier eine entscheidende Rolle bei der Kodierung und Verarbeitung der Unterscheidungsmerkmale und schließlich beim Abrufen von Erinnerungen und Informationen.“

Moosfaser-Synapsen in Nahaufnahme

Wie die Signalverarbeitung in den Moosfaser-Synapsen auf molekularer Ebene jedoch funktioniert, ist noch nicht klar. 2020 machten sich Peter Jonas, Carolina Borges-Merjane und Olena Kim daran, die Struktur von Moosfaser-Synapsen zu untersuchen, indem sie eine neue Technik namens „Flash and Freeze“ einsetzten. Dabei handelt es sich um leistungsstarkes Werkzeug, bei dem Neuronen direkt nach der Stimulation eingefroren werden.

„Damals konnten wir strukturelle Veränderungen in den Moosfaser-Synapsen mit ihrer Funktionalität in Verbindung bringen“, so Kim. „Nun wollten wir die Technik weiterentwickeln und nicht nur die Struktur der Synapsen untersuchen, sondern auch die Veränderungen, die auf molekularer Ebene stattfinden, wenn Signale verarbeitet werden.“

Die Forschenden interessierten sich insbesondere für zwei Proteine, die sich in jener Zone befinden, wo die Neurotransmitter freigesetzt werden. Dazu gehört beispielsweise Cav2.1, der Baustein der Kalziumkanäle, durch die Kalzium einströmt, was die Freisetzung von Neurotransmittern auslöst. Aber auch Munc13, ein Schlüsselfaktor, der darauf hinweist, dass die Neurotransmitter bereit sind, freigesetzt zu werden.

„In früheren Arbeiten zu diesen beiden Proteinen wurden die Gehirnproben chemisch fixiert“, so Kim weiter. Das hat den Nachteil, dass sie keinen Einblick auf die dynamischen Prozesse lieferten, da diese Proben nicht mehr aktiv sind. „Deswegen wollten wir für unsere neue Studie lebendes Hirngewebe verwenden, um so die Dynamik, die natürliche Zusammensetzung und die Lokalisierung dieser Proteine zu erhalten.“

Eine mondähnliche Oberfläche

Mit Hilfe ihrer ISTA-Kollegen, Professor Ryuichi Shigemoto und Staff Scientist Walter Kaufmann, wendeten die Wissenschafter:innen die „Flash and Freeze-Fracture“ Technik an. Granularzellen in Gehirnproben von Mäusen wurden chemisch stimuliert, um den Prozess der Gedächtnisbildung zu aktivieren. Anschließend wurde das Hirngewebe sofort eingefroren und in zwei Hälften geteilt. Die innere Seite der Schnittfläche stellt die freiliegende Oberfläche des Gewebes dar – ein 3D-Fußabdruck des Gewebes in genau diesem Moment – mit eingebetteten Proteinen und Molekülen.

Cav2.1 und Munc13 wurden markiert und danach mit einem Elektronenmikroskop lokalisiert. Die Bilder, die Laien eventuell an die Mond-Oberfläche erinnert, zeigten interessante Details: Nach Stimulation ordnen sich beide Proteine neu an und rücken näher zusammen.

Weitere Tests ergaben, dass die Umstrukturierung eng mit der Funktionalität der Moosfaser-Synapse zusammenhängt. Peter Jonas fasst zusammen: „Bei der Aktivierung kommt es zu zwei Veränderungen. Erstens nimmt die Zahl der Vesikel in der Nähe der Membran zu. Zweitens kommt es zu einer Neuanordnung von Cav2.1 und Munc13 im Nanobereich, wodurch die Synapsen leistungsfähiger und präziser werden. Beide Veränderungen könnten zur Gedächtnisbildung beitragen“.

Die Studie wirft Licht auf die Beziehung zwischen Struktur und Funktion an einer Schlüsselsynapse im Hippocampus. Unsere Erinnerungen rufen oft lebhafte Bilder hervor. Bislang konnten wir jedoch die molekularen Signale, die die Gedächtnisbildung auslösen, nicht erfassen. Die vorliegende Studie legt nun einen Grundstein dafür.

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