News Release

Neues Populationsmodell definiert vier Phasen der menschlichen Besiedlung Europas

Peer-Reviewed Publication

University of Cologne

Ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftler*innen am Institut für Geophysik und Meteorologie und am Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität zu Köln hat ein neues Modell, das „Our Way Model“, entwickelt. Sie modellierten die Ausbreitung und die Bevölkerungsdichten des Menschen während des Aurignacien (vor ca. 43.000 bis 32.000 Jahren), um besser zu verstehen, wie die ersten anatomisch modernen Menschen Europa besiedelten. Das Modell zeigt vier Phasen des Prozesses auf. In der ersten Phase kam es zu einer langsamen Ausbreitung der menschlichen Besiedlung von der Levante bis zum Balkan, gefolgt von einer zweiten Phase der raschen Ausbreitung nach Westeuropa. Die darauffolgende dritte Phase war durch einen Rückgang der menschlichen Bevölkerung gekennzeichnet, und die vierte Phase brachte eine regionale Zunahme der Bevölkerungsdichte und ein weiteres Vordringen in zuvor unbesiedelte Gebiete Großbritanniens und der Iberischen Halbinsel. Die Ergebnisse wurden unter dem Titel „Reconstruction of human dispersal during Aurignacian on pan-European scale“ in Nature Communications veröffentlicht.

Die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Klimawissenschaftler*innen und Archäolog*innen hat es dem Team ermöglicht, quantitativ zu untersuchen, wie der Klimawandel die Ausbreitung des Menschen beeinflusst hat. Die frühen anatomisch modernen Menschen überlebten als Jäger und Sammler über extrem lange Zeiträume. Als sie begannen, sich in Europa auszubreiten, herrschten weltweit andere klimatische Bedingungen als heute: Das überwiegend kühlere und trockenere Klima der letzten Eiszeit wurde wiederholt von wärmeren Phasen unterbrochen, wobei einige Veränderungen abrupt und andere allmählich eintraten.

Die Gründe für die Ausbreitung der Menschen nach Europa waren wahrscheinlich vielfältig und umfassten menschlichen Entdeckergeist, eine veränderte Sozialstruktur und technischen Fortschritt. Das Team konnte mit dem Modell allerdings eindeutig zeigen, wie sich der Klimawandel auf die Ausbreitung der Menschen auswirkte. Die Ausbreitungsprozesse verliefen nicht linear; manchmal rückten die Menschen schnell vor und manchmal zogen sie sich in klimatische Refugien zurück.

Bisher wurden numerische Modelle der langfristigen Ausbreitung menschlicher Populationen auf kontinentaler Ebene üblicherweise mit Hilfe von sogenannten Diffusions-Reaktions-Gleichungen erstellt, die eine Kombination aus gleichförmiger Ausbreitung in alle Richtungen getrieben durch die wachsende Population beschreiben. Agentenbasierte Modelle, die individuelle und kollektive Motivationen zur Migration der Menschen erfassen, sind wiederum bei Untersuchungen auf kleinerer Skalenebene beliebter. Neuere Modelle beziehen Daten aus Paläoklimamodellen in ihre Berechnungen ein, konzentrieren sich aber auf die Nettoprimärproduktion, eine Größe für die Menge an gespeichertem CO2 in Pflanzen und Tieren, als Indikator für die Verfügbarkeit von Nahrung und die Mobilität der Menschen. Der Nachteil dieses Ansatzes ist, dass er die Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Ressourcen nicht berücksichtigt, da nur ein kleiner Teil vom Menschen nutzbar ist.

Das Forschungsteam geht davon aus, dass die frühe Besiedlung Europas hochkomplexe Prozesse der Ausbreitung, des Rückzugs, Auflassens und der Wiederbesiedlung umfasste, die durch klimatische Veränderungen und die Anpassungsfähigkeit der Menschen bedingt waren. Das „Our Way Model“ simuliert die menschliche Ausbreitung in zwei Hauptschritten: erstens durch die Kombination von Klima- und archäologischen Daten zur Modellierung des sogenannten menschlichen Existenzpotentials (Human Existence Potential – HEP) und zweitens durch die Modellierung der menschlichen Bevölkerungsdynamik, die durch das HEP eingeschränkt wird. Das HEP definiert die Wahrscheinlichkeit der menschlichen Existenz unter Klima- und Umweltbedingungen für eine bestimmte Kultur. Diese wichtige Größe wird mithilfe eines HEP-Modells geschätzt, das – basierend auf paläoklimatischen Daten – durch Machine Learning die menschliche Existenzwahrscheinlichkeit für bekannte archäologische Stätten berechnet. Dieser Ansatz des maschinellen Lernens konstruiert die klimatischen Bedingungen für das Aurignacien und bildet die klimatischen Präferenzen der Menschen dieser Kultur ab. Das trainierte Modell wird dann angewandt, um die räumlichen und zeitlichen HEP-Muster unter Verwendung von simulierten Daten eines globalen Klimamodells und den Sauerstoffisotopendaten aus grönländischen Eisbohrkernen zu schätzen.

Die Ergebnisse zeigen, dass auf die erste Phase der relativ langsamen Ausbreitung nach Westen von der Levante bis zum Balkan (vor ca. 45.000 bis 43.250 Jahren) eine zweite Phase der schnellen Ausbreitung nach Westeuropa (vor ca. 43.250 bis 41.000 Jahren) folgte. Obwohl von kurzen Rückschlägen unterbrochen, erreichten die Homo sapiens-Populationen nun rasch eine geschätzte Zahl von 60.000 Menschen in ganz Europa, die sich über alle bekannten archäologischen Fundstellen dieser Periode verteilten. Die anschließende dritte Phase war durch einen Rückgang der menschlichen Bevölkerung gekennzeichnet, sowohl in Bezug auf ihre Größe und Dichte als auch auf das von ihr bewohnte Gebiet (vor ca. 41.000 bis 39.000 Jahren). Diese Entwicklung war die Folge einer lang anhaltenden Kältephase, die fast 3.000 Jahre dauerte und als GS9/HE4-Phase bekannt ist.  Dem Modell zufolge überlebten die Menschen jedoch in topographisch geschützten Gunsträumen (zum Beispiel in den Alpen), die sie in der vorangegangenen Phase gerade besiedelt hatten. In der vierten Phase, beginnend vor etwa 38.000 Jahren, als sich die HEP-Bedingungen wieder verbesserten, erholte sich die Population schnell und wuchs weiter. Die regionale Zunahme der Bevölkerungsdichte und das weitere Vordringen in zuvor unbesiedelte Gebiete Großbritanniens und der Iberischen Halbinsel, die das Modell aufzeigt, stehen weitgehend im Einklang mit archäologischen Befunden.

Die HEP-Karten zeigen, dass am Ende des Prozesses manche Gruppen besser an kalte Klimabedingungen angepasst waren als andere, was es ihnen ermöglichte, die Grenzen der zuvor besiedelten Gebiete zu überschreiten. „Regionale Studien sind kaum in der Lage, alle Faktoren zu erfassen, die bei der Rekonstruktion der Ausbreitung des Menschen eine Rolle spielen. Dies schließt auch die Frage ein, wie die Faktoren auf verschiedenen Skalenebenen interagieren und zu langfristigen Gesamttrends beitragen. Darin liegt ein großer Vorteil des neuen Modellierungsansatzes“, sagt Dr. Isabell Schmidt vom Institut für Ur- und Frühgeschichte.

In weiteren Forschungsarbeiten wird das Team die dem Modell zugrundeliegenden Annahmen überprüfen und sich dabei auf die Rolle der kulturellen Entwicklung in menschlichen Ausbreitungsprozessen konzentrieren. Das Projekt „Human and Earth System Coupled Research“ (HESCOR) an der Universität zu Köln wird weitere Aspekte der Wechselwirkungen zwischen Mensch und Erdsystem in das Modell integrieren.


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