FRANKFURT. Ein solches Wahlpflichtfach hätte sich Prof. Robert Sader als Student auch gewünscht: „Zu meiner Studienzeit vor 40 Jahren war die medizinische Lehre extrem theorielastig, und richtigen Patientenkontakt hatten wir erst im Praktischen Jahr“, erinnert sich der Direktor der Klinik für Mund-, Kiefer- und Plastische Gesichtschirurgie am Universitätsklinikum Frankfurt in einem Interview zum Jubiläum. Die Idee, dass der Fachbereich Medizin sich in die Versorgung Bedürftiger einbringen könnte, hatte der Frankfurter Anatom Prof. Helmut Wicht. Sader, damals Studiendekan, griff sie auf und entwickelte sie gemeinsam mit Studierenden weiter. Nachdem – auch mit Hilfe des Frankfurter Gesundheitsamtes – so manche Hürde beseitigt werden konnte, ging die Studentische Poliklinik am 17. Juni 2014 als bundesweit erstes Angebot dieser Art in Betrieb. Seither wurde hier vielen Patientinnen und Patienten geholfen. Und auch von studentischer Seite war das Interesse stets an groß. Eine besondere Bestätigung für das Projekt: 2017 erhielt es den Hessischen Hochschulpreis für Exzellenz in der Lehre, der mit 60.000 Euro dotiert war.
Elke Voitl, Frankfurts Dezernentin für Soziales und Gesundheit, stellt die Initiative in die Tradition des berühmten Frankfurter Stadtarztes und Stifters Johann Christian Senckenberg: „Noch immer haben Menschen ohne Krankenversicherung in Deutschland lediglich in absolut akuten Notlagen einen Anspruch auf medizinische Hilfe. Das ist ein Problem. Wir brauchen dringend eine kostenlose Grundversorgung für jede:n in unserer Gesellschaft. Gesundheit ist eine wesentliche Voraussetzung für Teilhabe, sie ist die Basis für ein gutes Leben. Diese Basis allen zu ermöglichen, stärkt auch die Gemeinschaft. Andernfalls schreitet die Spaltung weiter voran, nehmen gesellschaftliche Verwerfungen und Spannungen unaufhaltsam zu“, warnt Sozial- und Gesundheitsdezernentin Elke Voitl. „Die StuPoli setzt hier einen ganz entscheidenden Impuls, denn sie ergänzt vorbildlich die Humanitäre Sprechstunde unseres Gesundheitsamts. Beide Angebote wurden über die Jahre hinweg ausgebaut – und die Nachfrage ist weiterhin enorm. Dies bestätigt unseren politischen Handlungsansatz und zeigt: Wir sind auf dem richtigen Weg“, sagt die Stadträtin.
„Das Präsidium der Goethe-Universität gratuliert der Studentischen Poliklinik zum zehnjährigen Bestehen. Die StuPoli ist ein besonders gutes Beispiel dafür, wie sich Wissenschaft direkt in die Gesellschaft einbringen kann – so wie es in der Gründungs-DNA der Goethe-Universität festgeschrieben ist. Auf Solidarität angewiesene Menschen in unserer Stadt profitieren davon; die Studierenden gewinnen durch ihre Mitarbeit in der StuPoli Praxiserfahrung und – vielleicht noch wichtiger – erleben das Gefühl großer Sinnhaftigkeit. Wir sind stolz auf dieses rundum gelungene Projekt“, sagt Prof. Viera Pirker, Vizepräsidentin für Lehre an der Goethe-Universität.
„Der Kontakt mit Patientinnen und Patienten ohne festen Wohnsitz, ohne Krankenversicherung und mit Problemen, die in Deutschland nicht im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen, fordert nicht nur fachliche Kompetenzen unserer Ärztinnen und Ärzte von morgen, sondern regt insbesondere auch zur Reflexion über die eigene Rolle, das eigene Verhalten und Engagement an. Die jungen Menschen erhalten im Vergleich zu ihrem regulären Studium eine ganz neue Perspektive auf ihre zukünftige Tätigkeit und erweitern dabei ihren Erfahrungsschatz und ihre kommunikativen Fähigkeiten erheblich“, erklärt Prof. Miriam Rüsseler, Studiendekanin des Fachbereichs Medizin.
„Das Spektrum an Erfahrungen bereichert die Arbeit von Ärztinnen und Ärzten“, sagt PD Dr. Peter Tinnemann, Amtsleiter des Gesundheitsamtes Frankfurt. „Das viele unterschiedliche praktische Erfahrungen bereits während des Medizinstudiums die Studentinnen und Studenten sammeln können, ist ein Gewinn für die Menschen in Frankfurt, für die Patientinnen und Patienten sowie natürlich für die Studenten und Studentinnen. Vielen Dank für zehn Jahre Stupoli. Es ist ein bemerkenswertes Projekt.“
Dr. Dr. Lukas Seifert, einer der studentischen Initiatoren, erinnert sich an die Planungsphase: In Europa habe es damals nichts Vergleichbares gegeben. Die amerikanischen Student-run Free Clinics dienten als Vorbild, eine studentische Delegation machte sich u.a. in Harvard ein Bild von Ablauf und Organisation. Seifert entwickelte auf dieser Basis im Rahmen einer Doktorarbeit das Konzept für das Frankfurter Wahlpflichtfach. Auf dem Weg zur Realisierung der StuPoli habe es vor allem zwei Hürden gegeben, schildert Prof. Sader: Zum einen die versicherungsrechtliche Problematik – sie sei gelöst worden, indem das Gesundheitsamt zur akademischen Lehreinrichtung der Universität akkreditiert, das klinische Wahlfach der StuPoli entwickelt und im Studium implementiert wurde. Zum anderen gestaltete sich die Suche nach Räumlichkeiten schwierig, aber dieses Problem wurde mit Hilfe des Gesundheitsamtes gelöst, das zunächst provisorisch mit Räumen aushalf. Aus dem Provisorium wurde eine Dauerlösung, die sich bewährt hat.
Von Beginn an als ärztliche Supervisorin dabei ist Dr. Petra Tiarks-Jungk. Sie leitete die Humanitäre Sprechstunde und gab den ersten StuPoli-Studierenden die Gelegenheit, dort zu hospitieren. Ihre Skepsis in Bezug auf die Qualität der studentischen Medizinkenntnisse sei rasch verflogen, berichtet sie: Von deren Engagement und Versiertheit sei sie „hellauf begeistert“ gewesen. Deshalb habe sie die StuPoli gern als ärztliche Supervisorin unterstützt und tue das auch heute noch – nach dem aktiven Berufsleben.
Die Studierenden treffen nicht unvorbereitet auf Patienten. Erst nach einem Semester und einem erfolgreich absolvierten Untersuchungskurs und Fallseminaren können sie praktisch in der StuPoli arbeiten – begleitet von einem „Senior“ und unter ärztlicher Supervision. Die Sprechstunden der Studentischen Poliklinik finden dienstags von 17 bis 19 Uhr und mittwochs von 18 bis 20 Uhr statt. Jeweils zwei Teams aus zwei Studierenden – ein Junior und ein Senior – untersuchen die Patienten, stellen die Anamnese, nehmen Blut ab oder machen einen Ultraschall. Oft geht es um akute Leiden, aber auch chronische Erkrankungen wie Diabetes und Bluthochdruck kommen vor. Robert Sader zufolge haben sich nicht wenige StuPoli-Engagierte für eine Tätigkeit in einer Hausarztpraxis entschieden. „Durch meine Mitarbeit in der StuPoli ist mein Interesse an der Allgemeinmedizin gestärkt worden“, bestätigt Petra Sporerova vom aktuellen StuPoli-Team. „Es macht viel Freude, den Patienten helfen zu können. Man erhält so viel Dankbarkeit zurück“, so die Medizinstudentin.