Wissenschaftler des GSI Helmholtzzentrums für Schwerionenforschung, der Technischen Universität Darmstadt und des Max-Planck-Instituts für Astrophysik haben einen neuen Prozess für die Nukleosynthese vorgeschlagen, den sogenannten νr-Prozess. Er funktioniert, wenn neutronenreiches Material intensiver Neutrinobestrahlung ausgesetzt ist. Der theoretische Vorschlag, der kürzlich in der Zeitschrift "Physical Review Letters" veröffentlicht wurde, könnte die Lösung für ein seit langem bestehendes Problem im Zusammenhang mit der Produktion einer Gruppe seltener Isotope sein: Die sogenannten p-Kerne kommen im Sonnensystem vor, ihr Ursprung ist aber immer noch schlecht verstanden.
Fusionsprozesse in massereichen Sternen erzeugen Kerne bis hin zu Eisen und Nickel. Darüber hinaus werden die meisten stabilen schweren Kerne, wie Blei und Gold, durch langsame oder schnelle Neutroneneinfangprozesse erzeugt. Für die Produktion der übrigen, neutronenarmen Kerne wurde eine Vielzahl von Nukleosyntheseprozessen vorgeschlagen. Es ist jedoch nach wie vor eine Herausforderung, die großen Mengen an 92,94Mo, 96,98Ru und 92Nb im (frühen) Sonnensystem zu erklären.
Der νr-Prozess ermöglicht die gleichzeitige Produktion all dieser Kerne, da Neutrinos eine Reihe von Einfangreaktionen katalysieren. So funktioniert der Prozess: Der νr-Prozess findet in neutronenreichen Ausströmungen astrophysikalischer Explosionen statt, die anfangs, wenn die Temperaturen hoch sind, aus Neutronen und Kernen im Bereich von Eisen und Nickel bestehen. Wenn die Temperatur des Materials sinkt, werden schwerere Kerne aus leichteren Kernen durch eine Abfolge von Neutroneneinfang- und schwachen Wechselwirkungsprozessen erzeugt. Anders als beim schnellen Neutroneneinfangprozess, bei dem die schwachen Reaktionen Betazerfälle sind, handelt es sich beim νr-Prozess jedoch um Neutrino-Absorptionsreaktionen. Sobald die freien Neutronen aufgebraucht sind, werden die in den Kernen gebundenen Neutronen durch weitere Neutrinoabsorptionen in Protonen umgewandelt, wodurch Atomkerne nahe der Beta-Stabilitätslinie und sogar darüber hinaus erzeugt werden. Die Energie der Neutrinos ist groß genug, um Kerne in Zustände anzuregen, die durch die Emission von Neutronen, Protonen und Alphateilchen zerfallen. Die emittierten Teilchen werden von den schweren Kernen eingefangen. Dadurch wird eine Reihe von Einfangreaktionen ausgelöst, katalysiert durch Neutrinos, die die endgültigen Häufigkeiten der durch den νr-Prozess erzeugten Elemente bestimmen. Auf diese Weise können Neutrinos neutronenarme Kerne erzeugen, die sonst unerreichbar sind. "Unsere Entdeckung eröffnet eine neue Möglichkeit, die Entstehung von p-Kernen durch Neutrino-Absorptionsreaktionen mit Kernen zu erklären", sagt Zewei Xiong, Wissenschaftler der GSI/FAIR-Abteilung „Nukleare Astrophysik und Struktur“ und korrespondierender Autor der Publikation.
Offen ist noch die Frage, in welcher Art stellarer Explosion der νr-Prozess auftritt. In ihrer Veröffentlichung schlagen die Autoren vor, dass der νr-Prozess in Material abläuft, das in einer Umgebung mit starken Magnetfeldern ausgestoßen wird, wie z. B. in magneto-rotierenden Supernovae, Kollapsaren oder Magnetaren. Dieser Vorschlag hat Astrophysiker*innen dazu veranlasst, nach den geeigneten Bedingungen zu suchen, und in der Tat wurde in einer ersten Veröffentlichung bereits berichtet, dass magnetisch getriebene Massenauswürfe die notwendigen Bedingungen erreichen.
Der νr-Prozess erfordert die Kenntnis von Neutrinoreaktionen und Neutroneneinfangreaktionen an Kernen, die sich auf beiden Seiten der Beta-Stabilitätslinie befinden. Die Messung der relevanten Reaktionen wird mit den einzigartigen Speicherringkapazitäten der GSI/FAIR-Anlage möglich werden.
Journal
Physical Review Letters
Method of Research
Computational simulation/modeling
Subject of Research
Not applicable
Article Title
Production of p Nuclei from r-Process Seeds: The νr Process
Article Publication Date
9-May-2024