Hohe Auszeichnung für die Geisteswissenschaften: Die Islamwissenschaftlerin Prof. Dr. Irene Schneider und der Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Hedde Zeijlstra von der Universität Göttingen erhalten jeweils einen Advanced Grant des Europäischen Forschungsrates (ERC). Der ERC fördert ihre Projekte fünf Jahre lang mit insgesamt jeweils 2,5 Millionen Euro. Darüber hinaus ist die Historikerin Dr. Anna Dorofeeva mit einem Teilprojekt an einem Advanced Grant der University of Leicester beteiligt. Aus dem Projekt fließen rund 550.000 Euro der Fördersumme an die Universität Göttingen.
Prof. Dr. Irene Schneider: „(De)Colonizing Sharia?“ Tracing Transformation, Change and Continuity in Islamic Law in the Middle East and North Africa (MENA) in the 19th and 20th Centuries
Die Auswirkung des europäischen Kolonialismus beherrscht gegenwärtig unter dem Stichwort des „Postkolonialismus“ die politischen und gesellschaftlichen, aber auch wissenschaftlichen Debatten. Der Einfluss des europäischen Kolonialismus auf die vorkolonialen Rechtssysteme der muslimischen Länder war immens und führte zum Beispiel zu grundlegenden Änderungen in Rechtsprechung, dem Gerichtssystem und der Ausbildung. Schariagerichte wurden abgeschafft oder auf das Familienrecht beschränkt. Bedeutet dies einen kompletten Bruch mit der vorkolonialen Rechtstradition? Oder lässt sich für „die Scharia“ ein Weiterleben konstatieren? „In unserem Projekt wollen wir der Frage nachgehen, wie sich die Transformation des Rechts konkret gestaltete, wie ‚Übersetzung‘ europäischen Rechts in das Recht der muslimischen Länder erfolgte“, erläutert Prof. Dr. Irene Schneider vom Seminar für Arabistik/Islamwissenschaften II. „Das Fragezeichen im Titel weist darauf hin, dass Umfang und Art des Einflusses erst noch herauszuarbeiten sind.“
Mit intensiver Archivarbeit und durch die Auswertung von Gesetzestexten, Debatten und Gerichtsurteilen wird das Forschungsteam die koloniale Vergangenheit verschiedener muslimischer Länder untersuchen und dabei die „agency“ der einheimischen Eliten jenseits aller kolonialen Gewaltausübung in den Blick nehmen. „Methodisch werden wir die bisher in europäischer Terminologie und Theorie begründete Forschung zusammen mit Forschenden aus der MENA-Region kritisch hinterfragen. Ein besseres Verständnis der Rechtsentwicklungen der kolonialen Epoche wird auch zu einem besseren Verständnis heutiger Debatten in der muslimischen Welt führen“, so Schneider.
Prof. Dr. Hedde Zeijlstra: Universal Paradigmatic Gaps (UNPAG) / Universelle paradigmatische Lücken
In vielen Sprachen fehlen Wörter für bestimmte Begriffe. So unterscheidet das Englische nicht zwischen männlichen und weiblichen Cousins und Cousinen, während andere Sprachen, wie zum Beispiel das Deutsche, dies tun. Es gibt aber auch Begriffe, für die es in keiner Sprache der Welt ein Wort gibt. Zum Beispiel gibt es nirgendwo ein einziges Wort, das „nicht alle“ bedeutet. Das ist überraschend, denn jede Sprache hat Wörter für „einige“ und „alle“, und viele Sprachen haben auch ein Wort für „kein“. Warum fehlt dann diese „vierte Ecke“? Das Gleiche gilt für Wörter, die „nicht und“ oder „nicht beides“ bedeuten. Auch hier gibt es in keiner Sprache der Welt ein Wort wie „nand“ oder „noth“, während „nor“ oder „neither“ im Englischen in Ordnung sind.
Solche universellen paradigmatischen Lücken sind bisher nicht systematisch untersucht worden. Da diese Lücken universell auftreten, können sie nicht auf kulturelle Eigenschaften zurückzuführen sein. Warum können dann logisch zugängliche Elemente nicht lexikalisiert werden? Letztlich wären diese Wörter nicht undenkbar. „In unserem Projekt werden wir viele weitere solcher universellen paradigmatischen Lücken identifizieren, untersuchen und erklären, sowohl in gesprochener Sprache als auch in Gebärdensprache“, sagt Prof. Dr. Hedde Zeijlstra vom Seminar für Englische Philologie. „Es wird sich herausstellen, dass die Art und Weise, wie Sprachen über Personen oder Dinge sprechen, sich auffallend von der Art und Weise unterscheidet, wie Sprachen über Möglichkeiten, das heißt mögliche Welten, sprechen, und diese Unterschiede liegen auch der faszinierenden und unerforschten Landschaft der fehlenden Wörter zugrunde.“
Dr. Anna Dorofeeva: Insular Manuscripts in the Age of Charlemagne (INSULAR) / Insulare Handschriften im Zeitalter Karls des Großen (Projektleitung: Prof. Dr. Joanna Story, University of Leicester)
Zwischen etwa 600 und 900 n. Chr. wurden in Irland und England Handschriften mit „insularen“ Schreib-, Dekorations- und Pergamentstilen hergestellt, die sehr charakteristisch sind. Gelehrte und Missionare brachten insulare Handschriften und Methoden zur Handschriftenerstellung von den Inseln auch auf den europäischen Kontinent und verwendeten sie dort gemeinsam mit ihren Studenten, insbesondere in Deutschland. Durch den Einsatz eines innovativen digitalen Instrumentariums sowie von Instrumenten aus der Paläografie, Handschriftenkunde und Kunstgeschichte wollen die Forschenden im Projekt rund 850 insulare Handschriften analysieren, um Unterschiede zwischen auf den Inseln geschriebenen und auf dem Kontinent hergestellten Handschriften zu ermitteln und den Austausch von Wissen, Gegenständen und Menschen zwischen Großbritannien, Irland und Kontinentaleuropa, insbesondere im Zeitalter Karls des Großen, auf neue Weise zu untersuchen.
Die Leitung des Projektes INSULAR liegt bei der University of Leicester, die Historikerin Dr. Anna Dorofeeva vom Institut für Digital Humanities der Universität Göttingen ist mit einem Teilprojekt daran beteiligt. Dorofeeva leitet am Institut für Digital Humanities den von der Volkswagen-Stiftung geförderten Schwerpunkt „Historische Grundwissenschaften – Digital Palaeography and Imaging Science“. In ihrer Forschung konzentriert sie sich in erster Linie auf frühmittelalterliche Bücher und Schriften, insbesondere auf Fragen des Polygrafismus und der Schreiberidentität, sowie auf digitale und computergestützte Methoden zum Studium und zur Lehre der Paläografie. „Die innovativen und interdisziplinären Forschungsansätze des Projekts INSULAR bieten eine besondere Chance, mittelalterliche Schriftlichkeit wie nie zuvor zu verstehen“, so Dorofeeva.
Kontakt:
Prof. Dr. Irene Schneider
Georg-August-Universität Göttingen
Philosophische Fakultät
Seminar für Arabistik/Islamwissenschaft II
Telefon: (0551) 39-29493
E-Mail: ischnei@uni-goettingen.de
Internet: www.uni-goettingen.de/de/65449.html
Prof. Dr. Hedde Zeijlstra
Georg-August-Universität Göttingen
Philosophische Fakultät
Seminar für Englische Philologie
Telefon: (0551) 39-27566
E-Mail: hzeijls@uni-goettingen.de
Internet: www.uni-goettingen.de/de/196550.html, www.heddezeijlstra.org/