News Release

Stranger than Friction: Kräfte für das Leben

Forschende zeigen: Meeresbewohner nutzt Reibung für die Embryonalentwicklung

Peer-Reviewed Publication

Institute of Science and Technology Austria

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Sea squirts attached on reef. The marine organism is a great model to study developmental processes of vertebrates.

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Credit: © Shutterstock/ISTA

Im Töpferstudio hilft uns die Reibung zwischen unseren Händen und dem weichen Ton, ihn in alle möglichen Formen und Kreationen zu verwandeln. Auf erstaunlich ähnliche Weise nutzen die Eizellen von Seescheiden dasselbe Prinzip. Durch die Reibung zwischen den Komponenten in ihrem Zellinneren kommt es zu Formveränderungen, die deren Entwicklung vorantreiben. Wie das funktioniert, zeigt uns eine neue Studie von der Heisenberg Gruppe am Institute of Science and Technology Austria (ISTA), welche im Fachjournal Nature Physics publiziert wurde.  

Ein Blick ins Meer eröffnet eine völlig neue Welt. Algen, bunte Fische, Meeresschnecken oder Seescheiden treiben durch die Tiefe des Ozeans. Vor allem Seescheiden oder Aszidien sind besonders außergewöhnlich. Als Larve bewegen sie sich nämlich frei im Wasser, lassen sich dann aber nieder und heften sich an Felsen oder Korallen an. Dort entwickeln sie ihre charakteristischen Röhren (Siphons). Ausgewachsen wirken die Meeresbewohner auf ersten Blick zwar wie gummiartige Klumpen, doch sind sie jene Wirbellose, die mit Menschen am nächsten verwandt sind. Vor allem als Larven sind sie uns erstaunlich ähnlich.  

Aus diesem Grund werden sie in der Grundlagenforschung häufig als Modellorganismen zur Untersuchung der frühen Embryonalentwicklung von Wirbeltieren, zu denen wir Menschen gehören, verwendet. „Während Aszidien grundlegende Entwicklungs- und morphologischen Merkmale von Wirbeltieren aufweisen, haben sie zusätzlich die typische zelluläre und genomische Einfachheit von Wirbellosen“, erklärt Carl-Philipp Heisenberg, Professor am Institute of Science and Technology Austria (ISTA). „Speziell die Aszidienlarve ist ein ideales Modell, um die frühe Wirbeltierentwicklung zu analysieren.“

Detaillierte Einblicke in genau diesen Lebensabschnitt gibt uns nun die neueste Arbeit seiner Forschungsgruppe, die in Nature Physics veröffentlicht wurde. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass Reibungskräfte in befruchteten Aszidien-Eizellen eine entscheidende Rolle bei der Umformung und Reorganisation ihres Zellinneren spielen – und somit die nächsten Schritte in ihrer Entwicklungskaskade einläuten.

Die Umgestaltung der Eizellen entschlüsselt
Unter Oozyten versteht man weibliche Keimzellen, die an der Fortpflanzung beteiligt sind. Nach ihrer erfolgreichen Befruchtung durch männliche Spermien kommt es bei tierischen Eizellen typischerweise zu einer zytoplasmatischen Umstrukturierung, bei der sich ihre Zellinhalte und -bestandteile verändern. Dieser Prozess legt den Bauplan für die spätere Entwicklung des Embryos fest. Bei den Aszidien beispielsweise führt dieser Umbau zur Bildung einer glockenartigen Ausstülpung (sozusagen einer kleinen Beule oder Nase), die als Kontraktionspol (CP, aus dem Englischen contraction pole) bekannt ist. In diesem Pol sammeln sich wichtige Materialien, die die Reifung des Embryos fördern. Wie genau diese Ausstülpung aber entsteht, war bis jetzt ungeklärt.

Zusammen mit Kolleg:innen der Université de Paris Cité, dem CNRS, dem King’s College in London und der Sorbonne Université, machten sich Forschende am ISTA daran, dieses Geheimnis zu entschlüsseln. Für dieses Unterfangen wurden erwachsene Seescheiden von der Meeresstation Roscoff in Frankreich nach Klosterneubug an den ISTA-Campus importiert. Beinahe alle Seescheiden sind Hermaphroditen (Zwitter), d.h. sie produzieren sowohl männliche als auch weibliche Keimzellen. „Im Labor halten wir sie artgerecht in Salzwassertanks, um ihre Eier und Spermien für die Untersuchung ihrer frühen Embryonalentwicklung zu gewinnen“, erklärt Silvia Caballero-Mancebo, Erstautorin und ehemalige Doktorandin im Heisenberg Lab.

Aszidien-Eizellen wurden befruchtet und anschließend mikroskopisch untersucht. Dabei stellten die Forschenden fest, dass die Zellveränderungen, die zur Bildung des Kontraktionpols führen, genauestens reproduzierbar sind. Die anfängliche Spurensuche fokussierte sich auf den Aktomyosin-(Zell-)Kortex – eine dynamische Struktur, die sich in tierischen Zellen unter der Zellmembran befindet. Dieses Netzwerk besteht aus Aktin-Filamenten und Motorproteinen und dient im Wesentlichen als Impulsgeber für die Formveränderungen der Zellen.

„Unsere Untersuchung ergab, dass sich der Aktomyosin-Kortex nach der Befruchtung durch die erhöhte Spannung zusammenzieht und dadurch in strömende Bewegung gerät. Dies führt zu den ersten Formveränderungen der Zelle“, so Caballero-Mancebo weiter. Die Aktomyosin-Ströme stoppten jedoch während der Ausweitung des Kontraktionspols – ein Hinweis, dass es eventuell weitere Faktoren gibt, die für die Beule verantwortlich sind.

Reibungskräfte beeinflussen die Umformung der Zellen
Die Wissenschafter:innen machten sich in Folge auf die Suche nach anderen Zellkomponenten, die möglicherweise an der Ausdehnung des Kontraktionspols beteiligt sind. Dabei nahmen sie das Myoplasma genauer unter die Lupe. Bei dieser Zellstruktur handelt es sich um eine Schicht, die sich aus intrazellulären Organellen und Molekülen zusammensetzt (verwandte Formen davon finden sich auch in den Eiern vieler Wirbeltiere und Wirbelloser) und sich im unteren Bereich der Zelle befindet. „Diese spezielle Schicht verhält sich wie ein elastischer Festkörper und verändert so während der Befruchtung ihre Form zusammen mit der Eizelle“, klärt Caballero-Mancebo auf.

Während des stromhaften Fluss des Aktomyosinkortex faltet sich das Myoplasma und bildet aufgrund der Reibungskräfte, die zwischen den beiden Komponenten entstehen, zahlreiche Wölbungen. Wenn die Aktomyosinbewegung aufhört, verschwinden auch die Reibungskräfte. „Dieser Stillstand führt schließlich zu einer Ausdehnung des Kontraktionspols, da sich die zahlreichen Myoplasmawölbungen in eine gut definierte glockenförmige Beule auflösen“, fügt Caballero-Mancebo hinzu.

Die Studie liefert neue Erkenntnisse darüber, wie mechanische Kräfte die Form von Zellen und Organismen bestimmen. Sie verdeutlicht die zentrale Bedeutung von Reibungskräften in der Gestaltung und Formung eines sich entwickelnden Organismus. Allerdings stehen die Wissenschafter:innen erst am Anfang dessen, was die spezifische Rolle von Reibung in der Embryonalentwicklung ausmacht. Heisenberg fügt hinzu: „Außerdem würden wir gerne mehr über das Myoplasma herausfinden, da es auch an anderen embryonalen Prozessen der Aszidien beteiligt ist. Dessen ungewöhnliche Materialeigenschaften zu erforschen und dadurch zu begreifen, wie diese bei der Gestaltung von Seescheiden beteiligt sind, wird besonders spannend.“

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Information zu Tierversuchen:
Um grundlegende Prozesse etwa in den Bereichen Neurowissenschaften, Immunologie oder Genetik besser verstehen zu können, ist der Einsatz von Tieren in der Forschung unerlässlich. Keine anderen Methoden, wie zum Beispiel in-silico-Modelle, können als Alternative dienen. Die Tiere werden gemäß der strengen in Österreich geltenden gesetzlichen Richtlinien aufgezogen, gehalten und behandelt. Alle tierexperimentellen Verfahren sind durch das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung genehmigt.

 


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