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Begann die Evolution der Tiere mit einer räuberischen Lebensweise?

Neue Forschungserkenntnisse zur Seeanemone Aiptasia lassen Rückschlüsse auf die Entstehung vielzelliger Lebewesen zu

Peer-Reviewed Publication

Heidelberg University

Aiptasia 1

image: Das Bild zeigt ein frühes Planula-Larvenstadium der Seeanemone Aiptasia (cyanfarbene Kerne und grüne Stachelzellen), das eine Krebspuppe (grün) des Copepoden Tisbe sp. erbeutet. view more 

Credit: Ira Mägele und Ulrike Engel

Waren die ersten Tiere Beutefänger oder Filtrierer, wie die in den heutigen Meeren lebenden Schwämme? Und welche Rolle spielte dabei, wie bei riffbildenden Korallen, die Symbiose mit Algen? Überraschende Befunde einer Forschungsgruppe um Prof. Dr. Thomas W. Holstein von der Universität Heidelberg zur Entwicklung von Seeanemonen legen nahe, dass die räuberische Lebensweise für die Evolution der Tiere prägend war und bedeutende Auswirkungen auf die Entstehung ihres Nervensystems hatte. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler konnten zeigen, dass die frühen Entwicklungsstadien (Larven) der kleinen Seeanemone Aiptasia von der aktiven Aufnahme lebender Beute, aber nicht von Algen abhängen. Für den Beutefang nutzen die Seeanemonenlarven spezialisierte Nesselzellen und ein einfaches neuronales Netz.

Bei der frühen Embryonalentwicklung vielzelliger Lebewesen spielt die Gastrulation eine Schlüsselrolle: „In ihrer einfachsten Form entsteht die Gastrula aus einem Ball von Zellen, der Blastula, und bildet eine Larve mit Darm und Mund – so als würde man einen Ball nach innen drücken. Dieses Gastrula-Stadium wird von allen Tieren durchlaufen und könnte auch am Anfang der Evolution der Tiere gestanden haben“, erläutert Prof. Holstein, Entwicklungs- und Evolutionsbiologe am Centre for Organismal Studies (COS) der Ruperto Carola. Ira Mägele, Mitglied seiner Forschungsgruppe, gelang der Nachweis, dass bereits die Larven der Seeanemone Aiptasia im späten Gastrula-Stadium Beutetiere geeigneter Größe mit ihren Nesselzellen fangen, über den Mund aufnehmen und in der Körperhöhle (Urdarm) verdauen.

Die Seeanemone Aiptasia gilt als ein Modellsystem für die Endosymbiose-Forschung bei Korallen und weiteren Nesseltieren. „Korallen leben in nährstoffarmen Gewässern und nehmen als Larven oder junge Polypen symbiotische Algenzellen auf. Bei Aiptasia ist dieser Vorgang für die adulten Tiere wichtig, führt allerdings nicht zu Wachstum und Ansiedlung der Larven. Dies deutet darauf hin, dass die Ernährung ein kritischer Schritt für die Schließung des Lebenszyklus ist“, so Thomas Holstein. Untersuchungen der Ernährungsbedingungen im Labor ergaben, dass bei den winzigen Aiptasia-Larven für die Wahl der richtigen Nahrung entscheidend ist, dass sie klein genug und lebendig ist. Die Nauplius-Larven von Ruderfußkrebsen (Tisbe) sind mit 50 bis 80 Mikrometer ähnlich groß wie die Aiptasia Larven und erwiesen sich als ideal.

Die Larven gewinnen rasch und kontinuierlich an Größe, gefolgt von der Ansiedlung auf dem Substrat und der Metamorphose in Primärpolypen. „Auf diese Weise konnten wir erstmals geschlechtsreife Polypen und wiederum deren Nachkommen züchten“, so Ira Mägele. Dr. Elizabeth Hambleton, an der Studie beteiligte Wissenschaftlerin von der Universität Wien (Österreich), hebt hervor: „Durch den so geschlossenen Lebenszyklus von Aiptasia wird es erstmals möglich sein, notwendige molekulargenetische Experimente durchzuführen, die für funktionelle Studien an diesem wesentlichen Endosymbiosemodell notwendig sind.“ Prof. Dr. Annika Guse von der Ludwig-Maximilians-Universität München, ebenfalls Co-Autorin, sieht in diesem experimentellen Ansatz einen Durchbruch für die Arbeit an diesem Modellsystem.

Wie Prof. Holstein betont, eröffnen die gewonnenen Daten ein neues Bild, wonach die räuberische Lebensweise ein ursprüngliches Merkmal der Nesseltier-Gastrula ist. Die „Gastrula-Hypothese“ wurde zuerst von dem Evolutionstheoretiker Ernst Haeckel (1834 bis 1919) aufgestellt. „Doch die hypothetische Gastrula Haeckels ging von einer Partikel-filtrierenden Lebensweise wie bei Schwämmen aus. Die räuberische Gastrula von Aiptasia und anderen Nesseltieren dagegen besitzt spezialisierte Nesselzellen, die zum Beutefang eingesetzt werden.“ Diese räuberische Lebensweise von Gastrula-ähnlichen Formen mit extrusiven Organellen, die Giftsekret abgeben und bei Einzellern und einfachen Würmern ebenfalls vorkommen, könnten, so der Heidelberger Biowissenschaftler, eine wichtige Triebkraft für die frühe Evolution vielzelliger Lebewesen und die Entwicklung komplex organisierter Nervensysteme gewesen sein.

Die Ergebnisse der Studie wurden in der Fachzeitschrift PNAS veröffentlicht. Gefördert wurden die Forschungsarbeiten von der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen des Heidelberger Sonderforschungsbereichs „Mechanismen und Funktionen des Wnt-Signalwegs“ sowie des ERC Consolidator Grant „SYMCELLS – Resolving the molecular mechanisms of intracellular coral-algal symbiosis“ unter Leitung von Prof. Guse.


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